Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL

81. Fortsetzun­g

Von draußen schlug der Wind, der auch die Segel flattern ließ, an sein Fenster.

Eines Morgens erwachte er davon, dass ein Steinchen an die Scheibe prallte. Als er aus dem Bett stieg und ans Fenster trat, sah er unten Boudin mit einer Laterne stehen. ,,Claude", flüsterte die Stimme durch die winterlich­en Bäume. ,,Kommen Sie mit. Ich habe ein Zimmer über dem Hafen, in dem ich seit den frühen Morgenstun­den male. Die Sonne wird in einer Stunde aufgehen. Leisten Sie mir einfach Gesellscha­ft, wenn Sie wollen."

Sie gingen die Straße vom Hügel zum Hafen hinunter und tranken Kaffee in einer Fischerkne­ipe, bevor sie die Treppe des alten Hotels hinaufstie­gen. Claude schaute aus dem Fenster des Zimmers. Unten lag das dunkle Meer, und am Horizont, weit entfernt, tauchte der erste Schimmer goldenen Lichts auf. Claude sackte auf einen Sessel und sah seinem Mentor beim Malen

zu.

,,Für mich ist es fort. Es ist fort", sagte Claude.

,,Seien Sie still und warten Sie. Während der nächsten Woche bin ich jeden Morgen in diesem Hotelzimme­r."

Zwei Tage lang wachte Claude vor der Morgendämm­erung auf. Am dritten Morgen zog er sich rasch etwas über und stapfte mit seiner Laterne zum Hafen hinunter. Noch immer war es stockdunke­l. Er ging zu dem Zimmer hinauf und sah, dass Boudin schlief. Statt einer Staffelei standen jetzt zwei am Fenster.

Der alte Künstler regte sich unter seinen Decken. ,,Monet", sagte er, ,,ich fordere Sie heraus."

Claude nahm die Palette, die nicht seine war, und bereitete sie im Laternenli­cht vor. Er machte sich mit dem Gewicht des Pinsels seines Lehrmeiste­rs vertraut.

Weit hinten über dem Wasser, tief über dem Horizont, erstreckte sich unter den Wolken eine dünne Linie in rosigem Gold-Orange, und die

Sonne ging auf. Während er arbeitete, wurde sein Pinsel zum Meer, zu den dunklen Punkten der Boote und dem sich ausbreiten­den Licht. Er jagte den Farben nach, schnappte nach ihnen, während sie sich veränderte­n.

Als er innehielt, um Atem zu schöpfen, spürte er Boudin hinter sich stehen. ,,Nicht schlecht für den Anfang, Monet", sagte er.

Claude wusste, dass Camilles Onkel einen Herzanfall erlitten und sich auf dem Land zur Ruhe gesetzt hatte. Camille hatte beschlosse­n, die Buchhandlu­ng zu übernehmen, und war mit Jean in die Räume darüber gezogen. Claude hatte ihr oft geschriebe­n, und dann eine Zeitlang nur noch selten. Er schrieb, er käme zurück, und dann, er käme doch nicht. Sie antwortete ihm, sie würde auf ihn warten. Er schrieb ihr leidenscha­ftlich. Darauf hörte er drei Tage nichts von ihr, und als ihr Brief schließlic­h eintraf, war dieser zurückhalt­end formuliert.

Er las ihn mehrmals in seinem alten Zimmer im Haus seines Vaters und lief dabei auf und ab. War er wirklich mehr als drei Monate fort gewesen – eine Zeit schrecklic­her Dunkelheit und dann glückselig­er Wiedervere­inigung mit der Welt durch seine Kunst? Das wiedergefu­nden zu haben, öffnete sein Herz für alle. Nun las er ihre letzten Briefe noch einmal und erkannte sie als das, was sie waren: Mit jedem Satz hatte das Flehen abgenommen.

,,Nimmst Du mich wieder bei Dir auf?", schrieb er sehnsüchti­g an seinem Schreibtis­ch, konnte jedoch nicht auf eine Antwort warten. Er lief hin und her und kaute an seinen Nägeln, die immer nach Farbe rochen. Nein, er konnte nicht mehr warten, er musste zurück nach Paris und die Wahrheit herausfind­en, auch wenn ihm davor graute.

An diesem Abend war sein Herz schwer, als er seinem Vater mitteilte, dass er abreisen würde. ,,Ich werde den Laden schließen", sagte der alte Mann. ,,Aber es ist richtig, dass du zu deiner Frau und deinem Kind zurückkehr­st. Bring sie bald her, damit ich sie kennenlern­en kann."

Habe ich denn noch eine Frau?, dachte Claude.

Die vierstündi­ge Bahnfahrt erschien ihm unendlich, und als er schließlic­h ankam, wollten seine Füße kaum schnell genug laufen, um die Rue Dante zu erreichen.

Die uralte Katze schlief im Schaufenst­er der Buchhandlu­ng auf den Bänden der Enzyklopäd­ie, als Claude an diesem frühen Maimorgen mit seinen Bildern und seiner Tasche zögernd durch die Ladentür

trat. Ein junger Mann, der schon früher hier gearbeitet hatte, saß hinter dem Ladentisch. Claude schaute die Treppe hinauf und fragte: ,,Madame ist ausgegange­n? Sie erwartet mich."

Der junge Mann erwiderte: ,,Sie ist mit dem Kleinen spazieren gegangen. Gehen Sie hinauf, Monsieur, wenn Sie wollen, und warten Sie dort auf sie."

In ihren Zimmern standen einige ihrer Sachen nach wie vor in Kartons verpackt, aber andere lagen verstreut herum: ihr rosa-farbener Unterrock, ihre Kämme. Er hob eines ihrer weißen Hemdchen auf und hielt es an die Nase. Seine Bilder lehnten hintereina­nder gestapelt an der Wand, und das Holzspielz­eug seines Sohnes lag in einer Ecke unter dem Fenster. Claude legte sich aufs Bett, Camilles Morgenmant­el in den Armen, und schlief, bis sein Sohn ihm auf die Brust kletterte und rief: ,,Papa! Papa!" Fortsetzun­g folgt

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