Letztes Lagerfeuer der TV-Unterhaltung
Trotz Netflix und Co.: Warum der „Tatort“auch nach 50 Jahren nicht totzukriegen ist
Berlin – Am „Tatort“scheiden sich die Geister. Für die einen ist er Kult, für die anderen die Pest. Oder allenfalls ein Relikt aus Zeiten des Röhren bildschirms. Trotz alledem können sich die Sonntagabend Erst ausstrahlungen überein Millionen publikum freuen. Ausgerechnet die Krimireihe über Mord und Totschlag ist nicht totzukriegen. Experten sehen den Grund gerade darin, dass es eben nicht den „Tatort“gibt.
Was macht den „Tatort“so besonders
„Manche Tatort-Standorte haben hervorragende Drehbuchautoren, manche erlauben auch Experimente“, sagt die Kulturanthropologin Regina Bendix von der Universität Göttingen. Der Zuschauer habe somit eine Auswahl. „Wer schon lange Tatort schaut, kann diese Unterschiedlichkeit auskosten. Tatort ist nicht gleich Tatort.“
„Wenn man zehn Millionen Zuschauer haben will, muss man eine Mischkalkulation machen“, erklärt Germanist Stefan Scherer vom Karlsruher Institut für Technologie.
Für jüngere, Netflix-erprobte Generationen müsse etwas dabei sein, dass sich am Kino orientiert. Die Wiesbadener Folgen um Ulrich Tukur oder das Weimarer Team um Christian Ulmen und Nora Tschirner seien Beispiele. Großeltern sei das womöglich zu schnell, die bräuchten eher Kammerspielartiges.
Gehen die „Tatort“Macher mit der Zeit
Der „Tatort“werde kontinuierlich umgebaut, betont Regina Bendix. „Dass er sein 50. Jubiläum feiern kann, leitet sich aus der recht genialen föderalen Anlage ab, der es nach 1989 auch gelang, in gewisser Weise integrativ zu wirken.“Früher noch stärker habe der Tatort zur Landeskunde beigetragen, sagt auch Scherer. „In Norddeutschland hat man die Lebensverhältnisse in Bayern kennengelernt und umgekehrt.“
Durch den regen Wandel könnten auch neue Herangehensweisen gut getestet werden, sagt Christian Hißnauer vom Institut für deutsche Literatur an der Humboldt-Universität (HU) Berlin. Wenn etwas dann beim Publikum nicht ankomme, wie etwa der Saarbrücker Ermittler Jens Stellbrink (Devid Striesow), könne es schnell abgestellt werden. „Gleichzeitig stabilisieren die Altbekannten das Format.“
Wie experimentell ist der „Tatort“heute
Insbesondere der Hessische und der Mitteldeutsche Rundfunk trauten sich, experimentelle Kriminalfilme umzusetzen, meint Sabine Pofalla aus der Chefredaktion der Website „tatort-fans.de“.
„Der WDR, NDR und BR hingegen bedienen im Wesentlichen die Sehgewohnheiten der – vorwiegend älteren – Stammzuschauer, die klassische Erzählformate bevorzugen. Das sind jene „Tatort“Liebhaber, die sich regelmäßig Kommissar Haferkamp, Bienzle oder Horst Schimanski aus den Anfängen der Serie zurückwünschen.“Die Mischung sei ausbalanciert und genau richtig, findet Pofalla. „Spannend, ernst, komisch, überraschend, erschreckend, seriös und albern: Der Tatort erzeugt Emotionen.“
Auch Hendrik Buhl, Medienforscher an der Uni Regensburg, findet, die ARD habe alles richtig gemacht, dass sie die Reihe im Laufe der Zeit breiter aufstellte. Den „Tatort“bezeichnet Buhl als „letztes fiktionales Fernsehereignis“, als „eines der letzten medialen Lagerfeuer, vor denen sich die Nation versammelt“.
Das liege aus Bendix’ Sicht auch am Sendeplatz am Sonntag um 20.15 Uhr: „Der markiert das Ende des Wochenendes.“Da sei oft Zeit zum generationsübergreifenden, gemeinsamen Gucken.
Ist der „Tatort“immer noch Tagesgespräch
„Der Tatort wirkt für manche vergemeinschaftend“, sagt Bendix. „Menschen tauschen sich mit Familie und Freunden oder am Arbeitsplatz darüber aus“, sagt sie. Dass dabei auch gelästert werde, tue wenig zur Sache: „Es bilden sich Vorlieben heraus für ein Ermittlerduo, Antipathien für ein anderes, Neugierde, wie ein neuer Tatort sich entwickeln wird, und Genuss, gemeinsam mit einem altvertrauten TatortTeam zu altern.“
Anders sieht es etwa Hißnauer: Der Sendeplatz passe für viele nicht mehr in den Tagesablauf. Viele schauten heute zeitversetzt. Das habe auch Folgen für den „Tatort“als Gesprächsthema: „Man kann sich nicht mehr sicher sein am Montagmorgen, dass das Gegenüber ihn auch geguckt hat.“Das sei früher anders gewesen. Da wusste man, ob der Kollege „Wetten, dass..?“oder „Tatort“geguckt hatte.
Buhl betont ebenfalls, dass die „Erzählform der Stunde“die horizontal erzählte Serie sei. „Vielleicht sollte es den Tatort in Form von Miniserien geben, eventuell sogar mit eigenen Teams dafür, die über mehrere Folgen einen Fall lösen.“Das entspreche mehr der Netflix-Generation und neuen Sehgewohnheiten. Zudem liege ein wichtiger Faktor in der Mediathek und ähnlichen Nutzungsformen: „Wenn man junge Zuschauer halten will, dann online.“