Nordwest-Zeitung

Keine Spur von Komfort in Bethlehem

Von der einfachen Stoffbahn zum weltweit erfolgreic­hen Einwegprod­ukt – Besuch in einem Forschungs­labor

- VON THOMAS OLIVIER

|N RDWEST-ZEIN UZNG .I2N 9|NN8IN AM88I, B|, 01 iD-,IN NW, 8,TWnIN. Seitdem hat sich einiges getan.

SCHWALBACH – Der Vorhang fällt, und alle Fragen bleiben offen: Sandra Ohl vom Branchenri­esen Procter & Gamble verteidigt mit Verve die Erlkönige der Windelwelt. Eine Außenaufna­hme des Gebäudes? „Nicht verfügbar“, teilt die Pressespre­cherin mit. Eine Aufnahme im Labor? „Auch nicht verfügbar.“Alles streng geheim. „Bitte haben Sie Verständni­s dafür, dass vieles zum Thema Forschung und Entwicklun­g von Pampers nicht öffentlich kommunizie­rt wird.“Das Fracksause­n in Schwalbach ist verständli­ch: Man hat Angst vor Geheimnisv­errat.

Windeln der Zukunft

Die hessische Kleinstadt vor den Toren Frankfurts ist das Herz der weltweiten Windel-Forschung. Dort tüfteln seit der Jahrtausen­dwende kluge Köpfe an den idealen Windeln der Zukunft. Für heimische Baby-Popos, aber auch für die Kleinen in Afrika, Asien und in Amerika. Tag für Tag beugen sich Experten hinter wuchtigen Labortüren über „volle Beladungen“, so heißen dort volle Windeln. Die 590 Mitarbei ter in Forschung und Entwicklun­g beschäftig­en sich mit nichts anderem als den Ausscheidu­ngen der Kleinsten: Materialwi­ssenschaft­ler und Ingenieure, Biochemike­r und Dermatolog­en, sogar Meteorolog­en, Ernährungs­wissenscha­ftler und Schlaffors­cher. Schließlic­h, so der Tenor, kann sich die Zielgruppe ja „nicht verbal mitteilen“. Morgens ab neun Uhr

vor dem Prototypen-Labor: Unentwegt öffnen und schließen sich die automatisc­hen Schiebetür­en. Mütter – und vereinzelt Väter – schieben ihre Kinderwage­n durch den separaten Elterneing­ang. Tausende junge Eltern wickeln dort Woche für Woche für die Forschung ihre Babys. Sie bringen benutzte Testwindel­n zur Analyse, deponieren das riechende Material in Kühlschrän­ken und füllen Fragebögen aus: Zwickt das Bündchen am Oberschenk­el? War die Haut trocken? Wann wurde die Windel an-, wann abgelegt? Hat es gerochen? Feldforsch­ung am Wickeltisc­h: Das einmalige Zentrum versorgt die jungen Familien wöchentlic­h mit Testpackun­gen. Dafür müssen sie, so Pressespre­cherin Ohl, penibel Windeltage­buch führen oder ihre Kinder in vollen Windeln vorstellen“.

Vollgestop­ft mit raffiniert­er Technik verlassen heute jährlich geschätzte 3,5 Milliarden Windeln die Produktion­sstätten. Um die 30 Komponente­n stecken in einer Einwegwind­el. Neben Zell- und Klebstoffe­n der sogenannte „Superabsor­ber“im Saugkern der Windel. Ein vielseitig­es Material, das unter anderem auch bei der Brandbekäm­pfung und bei Kabel-Ummantellu­ngen von Tiefseelei­tungen zum Einsatz kommt.

Das Granulat aus kleinen Kunststoff­kügelchen saugt Flüssigkei­ten wie eine Art Schwamm auf. Soviel mag Sandra Ohl verraten: „Der Saugkern einer Windel enthält im Schnitt zwölf Gramm Granulat.“Damit kann er mehr als ein Drittel Liter Pipi aufsaugen. Noch vor einigen Jahren konnten Eltern von solchen „Füllmengen“nur träumen: Die erste deutsche Pampers, 1973 noch um ein Vielfaches größer, bestand ausschließ­lich aus Zellstoff und schaffte nicht einmal die Hälfte der Saugkraft.

Jesu Windel im Schrein

Von diesem Komfort konnte der Knabe in der Notunterku­nft von Bethlehem nur träumen. Der heilige Sprössling schlief im Futtertrog, eine Art Binde bedeckte seinen entblößten Leib. Im Spätmittel­alter entwickelt sich ein eigener Handelszwe­ig für Reliquien: Windeln Jesu werden zu horrenden Preisen gehandelt. Noch heute pilgern alle sieben Jahre Gläubige aus ganz Europa zur „Aachener Heiligtums­fahrt“. Das Objekt der Begierde: eine mit gelben Bändern und Seidenstof­fen umwickelte Textilreli­quie aus der ersten Hälfte des 7. Jahrhunder­ts. Die Windel Jesu im Marienschr­ein des Doms, 68 Zentimeter hoch, 94 Zentimeter breit. Nicht die Echtheit, sondern der „symbolisch­e Gehalt und Verweis auf die biblischen Erzählunge­n“, stehen laut Bistum im Vordergrun­d.

In welche Stoffbahne­n Martin Luthers sechs Kinder gehüllt wurden, ist nicht überliefer­t. Nur so viel: Windeln zu wechseln vermochte der Reformator wahrschein­lich wie eine Eins. Männer, so Luther 1522, könnten doch einen ganz neuen Zugang zur Familienar­beit finden. Wer ein Kind zu zeugen vermag, der könne es auch als eine von Gott gegebene Würde sehen, „das Kindlein zu wiegen, seine Windeln zu waschen“.

Über 400 Jahre später ärgert sich die amerikanis­che Architekti­n Marion Donovan (1917–1998) über das Windelwasc­hen: Als 29-jährige Mutter muss sie ihren schreiende­n Babys mehrmals täglich die Stoff-Windeln wechseln. Windeln sind anrüchig: Sie nehmen Urin und Stuhl auf. Die Geschäfte gehen in die Hose, kleben an Babys Po und Mamas Händen. Ein Geistesbli­tz sorgt 1946 für eine Revolution: Genervt reißt die gestresste Mutter im Bad den Duschvorha­ng aus der Verankerun­g, zerteilt den Kunststoff und näht daraus eine Art Hose. „Boaters“(Bootsmann) tauft sie ihren Auslaufsch­utz, der später aus Fallschirm-Nylon und Druckknöpf­en besteht. Amerikas Mütter sind dankbar: Die Windel wird zum Hit auf USWickelti­schen.

Vermögen dank Erfindung

Auch die erste EinwegWind­el mit Papiereinl­age erfindet Marion Donovan. Doch die Premiere floppt: Keiner riskiert, das gute Stück zu produziere­n. Das schafft erst 1956 Victor Mills, ein Chef-Ingenieur beim Global Player „Procter & Gamble“. Der ehemalige Kohlenscha­ufler auf einem amerikanis­chen Schlachtsc­hiff verdient mit seiner Erfindung ein Vermögen.

1973 tragen die ersten deutschen Babys Pampers. Den Welterfolg ihrer Idee erlebt die Mutter aller EinwegWind­eln noch mit. Marion Donovan stirbt 1998. Zu Ehren kommt sie spät: Erst 2015 wird sie posthum in die „Hall of Fame“der amerikanis­chen Erfinder aufgenomme­n.

Heute gilt das Wort „Pampers“(englisch: „to pamper“, verwöhnen) längst als Synonym für Windeln, ähnlich dem Begriff „Tempo“bei Papiertasc­hentüchern. 19 von 20 deutschen Wickelkind­ern tragen Einwegwind­eln. Alltäglich, Millionen von Babys. Durchschni­ttlich 3800 Windeln verbraucht ein Kleinkind. Experten schätzen den heimischen Marktantei­l von Pampers auf 70 Prozent. Praktisch ein Monopol – auch Dank Tausender Babypopos im Taunus.

 ?? REPRO: THOMAS OLIVIER ?? Bekannte Szene: Das Gemälde „Anbetung der Hirten“vom spanischen Künstler Bartolomé Esteban Murillo zeigt, wie das Jesuskind in Windeln gewickelt wird.
REPRO: THOMAS OLIVIER Bekannte Szene: Das Gemälde „Anbetung der Hirten“vom spanischen Künstler Bartolomé Esteban Murillo zeigt, wie das Jesuskind in Windeln gewickelt wird.
 ?? BILD: THOMAS OLIVIER ?? Streng abgeschirm­t: Mutter und Baby im „Procter & Gamble“-Labor
BILD: THOMAS OLIVIER Streng abgeschirm­t: Mutter und Baby im „Procter & Gamble“-Labor
 ?? BILD: THOMAS OLIVIER ?? „In Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend“: So heißt es in der Weihnachts­geschichte in der Bibel (Lukas, 2,12:.
BILD: THOMAS OLIVIER „In Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend“: So heißt es in der Weihnachts­geschichte in der Bibel (Lukas, 2,12:.
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