Unter Druck
Es scheint so selbstverständlich: Millionen Beschäftigte gehen in Deutschland nach acht Stunden Arbeit nach Hause, regelmäßig erhalten sie eine Lohnerhöhung. Gut, dass es diesen Alltag gibt – aber er ist alles andere als selbstverständlich, sondern musste hart erkämpft werden: Heute vor 100 Jahren wurde das Stinnes-Legien-Abkommen unterzeichnet, in dem erstmals die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiterschaft und als Tarifpartner anerkannt wurden.
Das Abkommen war eine beispiellose politische Zäsur. Diese Sozialpartnerschaft ist heute noch die Basis für 76 000 Tarifverträge, die dafür sorgen, dass tarifgebundene Beschäftigte höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und mehr Urlaubsanspruch haben. Tarifverträge haben längst die Funktion eines öffentlichen Gutes: Sie sorgen für sozialen Frieden in Betrieben und in der Gesellschaft.
Die Errungenschaft steht allerdings unter Druck. Immer mehr Arbeitgeber flüchten aus Tarifbindung und entziehen sich so ihrer Verantwortung. Bei den Beschäftigten stehen nur noch 43 Prozent der Westdeutschen und 56 Prozent der Ostdeutschen unter Tarif. Eine Trendwende ist dringend erforderlich.
Die Vorschläge dafür liegen auf dem Tisch: die Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, die Tariftreue bei der öffentlichen Auftragsvergabe und die Nachwirkung von Tarifverträgen. Allein damit ließe sich die Tarifbindung signifikant erhöhen – auch um die derzeitigen Herausforderungen Digitalisierung, Globalisierung und demografische Entwicklung zu gestalten. Denn klar ist: Diese Herausforderungen gewinnt, wer Beschäftigte motivieren kann und die besten Produkte und Dienstleistungen bietet. Billig kann jeder, erstklassig nicht – dafür stehen Tarifverträge.
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