och keine „Putin-Festspiele“
Blick auf eine auffällig unpolitische WM – Balsam für russische Seele
Gelb-grün bekleidete Brasilianer, die in der UBahn Fangesänge anstimmen, Ägypter in Pharao-Kostümen und Südamerikaner in InkaTracht: Bilder wie diese sieht man selten in russischen Städten, in denen die Menschen auf der Straße sonst eher gruß- und wortlos aneinander vorbeihasten. Nach anfänglicher Skepsis hat sich die Fußball-WM in Russland zu einem bunten Kultur- und Volksfest entwickelt, das mit jedem Erfolg der „Sbornaja“– der russischen Nationalmannschaft – für die Russen auch sportlich immer größere Bedeutung gewinnt.
Kritiker hatten im Vorfeld über die „Putin-Festspiele“gespottet und dem vor allem im Ausland umstrittenen Präsidenten Wladimir Putin vorgeworfen, er wolle das Sportspektakel nur nutzen, um von der Krim-Krise, dem UkraineKrieg und innenpolitischen Problemen abzulenken. Putin indes hält sich demonstrativ zurück, ließ sich schon beim sensationellen Spanien-Spiel der „Sbornaja“wegen unaufschiebbarer Termine entschuldigen und wird wohl auch an diesem Samstag nicht in Sotschi sein, um sein Team im Viertelfinale gegen Kroatien anzufeuern. Man kann nun spekulieren, welches Kalkül dahintersteckt. Offenbar will Putin zeigen, dass er sich auch während der WM lieber wichtigen Staatsgeschäften widmet.
Den meisten Russen ist es schlichtweg egal, ob der Präsident in der VIP-Lounge sitzt, oder im Kreml. Für sie ist die WM zu einer Auszeit geworden,
zu einer Art Urlaub von den Alltagssorgen. Sie genießen die Freizügigkeit und ausgelassene Stimmung in den Stadien, auf den Straßen und in den Fan- und Feierzonen. Sie suchen die Begegnung mit Gästen aus aller Welt. Und sie freuen sich wie jede Nation, deren Nationalmannschaft Können, Stärke und Herz zeigt, über den Erfolg ihrer Fußballer, die euphorisierte russische Fans schon im Finale sehen.
Gleichzeitig herrscht tiefes Unverständnis für die kalte Schulter, die viele westeuropäische Politiker den Russen zeigen. Während Menschen aus allen an der WM beteiligten EU-Ländern mit den Russen gemeinsam friedlich feiern, gehen die Regierungsvertreter sichtbar auf Distanz. „Man muss Politik und Sport trennen“, lautet die einhellige Meinung in Russland. Die WM wäre eine hervorragende Gelegenheit zu erleben, dass Russland viel mehr bietet und vor allem viel mehr ausmacht als die Politik des Kreml. Dass westliche Politiker diese Chance kaum nutzen, sorgt für Verwunderung und unterschwellig auch für Verbitterung und Enttäuschung.
Denn die Russen sind gute und herzliche Gastgeber und scheuen keine Kosten und Mühen, damit es ihren Gästen gut geht. Im Gegensatz zu den Chaos-Tagen bei der vorigen WM in Brasilien klappt in Russland alles nahezu perfekt. Die Spiele finden in modernen Stadien statt, das Turnier ist gut organisiert, für die Einreise ausländischer Fans wurden die Visa-Formalitäten vereinfacht, die Infrastruktur funktioniert, es gab bisher keine Sicherheitsprobleme.
Auch den Russen ist klar, dass diese Festtage bald wieder dem Alltag weichen. Und sie registrieren, dass die Regierung unter Ministerpräsident Dmitri Medwedew die Gunst der Stunde genutzt hat, um eine unpopuläre Steuer- und Rentenreform durchzuwinken. Während der WM ist das Demonstrationsrecht an den Spielorten, also auch in Moskau und Petersburg, eingeschränkt. Entsprechend liefen Aufrufe des Oppositionellen Alexej Nawalny zu Protestaktionen gegen die Reform weitgehend ins Leere. Mit der Gesetzesänderung sollen die Mehrwertsteuer und der Eintritt ins Rentenalter erhöht werden. Der Staat braucht Geld, reagiert hier aber auch auf die deutlich gestiegene Lebenserwartung seiner Bürgerinnen und Bürger.
Anders als von vielen erwartet, ist die WM in Russland auffällig unpolitisch. Der ebenfalls völlig unerwartete Erfolg der „Sbornaja“ist unterdessen Balsam für die russische Seele, in der immer auch Patriotismus mitschwingt. Das Team habe den Landsleuten Freude bereitet, nun wolle es sie auch stolz machen, sagte der russische Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow nach der Vorrunde.
Das ist bereits gelungen – ganz egal, wie das heutige Spiel gegen Kroatien ausgeht. Ansonsten wird die WM in Russland keine politische Zeitenwende markieren. Sie ist ein positives Signal in einer schweren Zeit – nicht mehr, aber auch nicht weniger.