Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Im „Schlafzimmer von Düsseldorf“
In den vergangenen 30 Jahren ist Kaarst stetig gewachsen, viele Neubürger sind zugezogen. Was macht die Stadt so besonders?
Mit rund 37,4 Quadratkilometern ist die Stadt Kaarst flächenmäßig die kleinste und gleichzeitig nach der Kreisstadt Neuss die am dichtesten besiedelte Stadt im Rhein-Kreis. In den fünf Ortsteilen Kaarst, Büttgen, Vorst, Holzbüttgen und Driesch leben knapp 44.000 Einwohner. So viel zu den Fakten. Doch was macht das Leben in Kaarst eigentlich aus? Warum ziehen immer mehr Menschen in das „Schlafzimmer von Düsseldorf“?
Früher war alles anders – diesen Satz hört man unter den alten Kaarstern immer wieder. Mit „früher“sind die Zeiten gemeint, in denen in Kaarst nur wenige Häuser standen und die meisten Flächen noch unbebaut waren. Doch die Stadt hat sich gewandelt. In den vergangenen Jahren wurden viele neue Wohngebiete aus dem Boden gestampft, die Flächen wurden immer mehr nachverdichtet. Doch es fehlt immer noch Wohnraum, vor allem günstiger. Das Wohnen in Kaarst ist teuer, vor allem viele ältere Mitbürger können sich kaum noch die Mieten leisten.
Doch gerade von den Neubürgern ist immer wieder zu hören, dass sie keinen Anschluss finden, wenn sie nicht gerade einem Schützen- oder Sportverein angehören. Als Zugezogener Mitglied in einem Schützenverein zu werden, ist nicht ganz so einfach, weil die meisten Züge oder Gesellschaften ein Zusammenschluss von Freunden sind, in dem es oftmals keinen Platz für „Fremde“gibt. Neubürger mit Nachwuchs finden dagegen meist über ihre Schul- oder Kindergarten-Kinder Anschluss. „Zugezogene“bleiben in Kaarst allerdins immer „Zugezogene“, auch jene, die bereits 30 Jahre oder länger im Stadtgebiet wohnen, werden diesen Zusatztitel nicht los.
Dagegen verfügt die Stadt über ein überragendes Netzwerk an Ehrenamtlern. In vielen sozialen Vereinen oder Gesellschaften tummeln sich Ehrenamtler, die mit anpacken, wenn Not am Mann ist und Hilfe verlangt wird. Vor allem die Sportvereine SG Kaarst, SF Vorst, VfR Büttgen, DJK Holzbüttgen, BTV Vorst oder VfS Büttgen wären ohne ihre Ehrenamtler aufgeschmissen. Bürgermeisterin Ursula Baum lässt kaum eine Gelegenheit ungenutzt, das ehrenamtliche Engagement in der Stadt zu loben und sich bei den Menschen, die sich freiwillig für die unterschiedlichsten Vereine oder Institutionen einsetzen, zu bedanken. Dazu zählt natürlich auch die Freiwillige Feuerwehr der Stadt Kaarst, die zu rund 670 Einsätzen im Jahr ausrückt.
Zudem gibt es in jedem Ortsteil eine eigene Schützenbruderschaft, die jeweils ihr eigenes Schützenfest feiert. Von Driesch im Mai über Kaarst (Juni), Büttgen (Juni), Holzbüttgen (August) und Vorst (September) – die Kaarster feiern oft und gerne. Doch Schütze sein bedeutet mehr als nur vier Tage im Jahr feiern: Neben den eigentlichen Festtagen engagieren sich die Bruderschaften im sozialen Bereich und sind einer der Motoren der Stadtgesellschaft.
Stichwort feiern: Jeweils am ersten September-Wochenende steigt mit „Kaarst Total“in der Innenstadt eines der größten Stadtfeste am Niederrhein. Auf vier Großbühnen treten samstags und sonntags viele verschiedene Bands und Künstler auf. Spannend ist jedes Jahr die Frage nach dem Headliner: Dieses Geheimnis wird vom Initiativkreis stets erst kurz vor Beginn des Festes gelüftet.
Mit der Kulturszene muss sich Kaarst vor niemandem verstecken. Das Kabarettprogramm 3k* hat sich in den vergangenen 20 Jahren weit über die Stadtgrenzen hinaus einen Namen gemacht, das Who-is-Who der deutschen Comedy-Szene gibt sich im Albert-Einstein-Forum die Klinke in die Hand. Auf dieser Bühne begannen unter anderem die Karrieren von Thomas Sträter oder Chris Tall. Zudem gelingt es dem städtische Kulturamt auch immer wieder, neben Comedians besondere musikalische Acts nach Kaarst zu holen. Die Corona-Pandemie sorgte für ein kurzes Tief, mittlerweile ist die Auslastung wieder hoch. Wie es jedoch weitergeht mit der Kultur, steht in den Sternen. Denn aktuell steht die Stadt vor der Haushaltskonsolidierung und stellt alle freiwilligen Ausgaben auf den Prüfstand.
Kaarst muss ab 2025 jährlich 15
Millionen Euro einsparen – das geht nur, wenn alle Bürger mitziehen und Kürzungen mittragen. Auch im Hinblick auf Schul- und Kitaplätze ist die Stadt nicht gerade auf Rosen gebettet, denn die vier weiterführenden Schulen sind alle voll und in den sechs Grundschulen ist ebenfalls kaum mehr Platz. Doch die Stadt arbeitet derzeit daran, mehr Einnahmen zu generieren und so das Haushaltsloch zu stopfen. Zwar sind viele Flächen in den Gewerbegebieten noch leer, die Wirtschaftsförderung steht aber nach Informationen unserer Redaktion mit potenziellen Investoren in Verhandlung, vor allem was die Flächen auf dem ehemaligen Ikea-Gelände in Kaarst-Ost betrifft. Das Landesrechenzentrum, das im Gewerbegebiet Kaarster Kreuz gebaut wird, könnte als Motor für weitere Ansiedlungen dienen.
Durch die hohe Altersstruktur – Kaarst ist die Stadt mit dem höchsten Altersdurchschnitt im RheinKreis
– ist die politische Landschaft konservativ eingefärbt, die CDU hat seit der kommunalen Neugliederung im Jahr 1975 stets die Ratsmehrheit. Bei der letzten Kommunalwahl allerdings hat sich erstmals nicht der CDU-Bürgermeisterkandidat durchgesetzt, sondern die FDP-Kandidatin Ursula Baum, die 2025 erneut kandidieren wird. Die CDU wird es dann mit einem neuen Kandidaten versuchen, der allerdings noch nicht feststeht. Mit 36,04 Prozent verloren die Christdemokraten im Vergleich zur Wahl 2014 (44,31) mehr als acht Prozentpunkte, dagegen holte die Partei Bündnis 90/Die Grünen mit 24,48 Prozent der Stimmen ihr historisch bestes Ergebnis in Kaarst. Die beiden schlossen einen Koalitionsvertrag, Schwarz-Grün hat im Stadtrat seitdem die Mehrheit.
Die Stadt ist nach 1994, als das neue Rathaus gebaut wurde, erneut im Wandel. Der gesamte Bereich rund um die Kirche St. Martinus wird gerade umgestaltet, auch die Stadtmitte soll ein neues Gesicht bekommen. Die Vorstellungen der einzelnen Parteien gehen dabei auseinander, auch wenn sich alle einig sind, dass die Innenstadt modernisiert werden muss. Dabei spielt die Frage nach dem Verkehr eine wichtige Rolle, und in diesem Punkt gibt es auch die größten Unterschiede in den Ansichten: Die CDU beispielsweise will die Alte Heerstraße als Ost-West-Verbindung halten, Grüne und FDP wollen sie dagegen mit einem neuen Gebäude mitten auf der Straße kappen.
Auch wenn Kaarst einige Baustellen zu schließen hat, geht es den Bürgern hier im Vergleich zu anderen Städten gut. Es gibt viele unterschiedliche Geschäfte, auch gastronomisch ist die Stadt gut aufgestellt: Von Gut-Bürgerlich über Italienisch bis hin zu pakistanischem Essen wird viel geboten.