Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Im „Schlafzimm­er von Düsseldorf“

In den vergangene­n 30 Jahren ist Kaarst stetig gewachsen, viele Neubürger sind zugezogen. Was macht die Stadt so besonders?

- VON STEPHAN SEEGER

Mit rund 37,4 Quadratkil­ometern ist die Stadt Kaarst flächenmäß­ig die kleinste und gleichzeit­ig nach der Kreisstadt Neuss die am dichtesten besiedelte Stadt im Rhein-Kreis. In den fünf Ortsteilen Kaarst, Büttgen, Vorst, Holzbüttge­n und Driesch leben knapp 44.000 Einwohner. So viel zu den Fakten. Doch was macht das Leben in Kaarst eigentlich aus? Warum ziehen immer mehr Menschen in das „Schlafzimm­er von Düsseldorf“?

Früher war alles anders – diesen Satz hört man unter den alten Kaarstern immer wieder. Mit „früher“sind die Zeiten gemeint, in denen in Kaarst nur wenige Häuser standen und die meisten Flächen noch unbebaut waren. Doch die Stadt hat sich gewandelt. In den vergangene­n Jahren wurden viele neue Wohngebiet­e aus dem Boden gestampft, die Flächen wurden immer mehr nachverdic­htet. Doch es fehlt immer noch Wohnraum, vor allem günstiger. Das Wohnen in Kaarst ist teuer, vor allem viele ältere Mitbürger können sich kaum noch die Mieten leisten.

Doch gerade von den Neubürgern ist immer wieder zu hören, dass sie keinen Anschluss finden, wenn sie nicht gerade einem Schützen- oder Sportverei­n angehören. Als Zugezogene­r Mitglied in einem Schützenve­rein zu werden, ist nicht ganz so einfach, weil die meisten Züge oder Gesellscha­ften ein Zusammensc­hluss von Freunden sind, in dem es oftmals keinen Platz für „Fremde“gibt. Neubürger mit Nachwuchs finden dagegen meist über ihre Schul- oder Kindergart­en-Kinder Anschluss. „Zugezogene“bleiben in Kaarst allerdins immer „Zugezogene“, auch jene, die bereits 30 Jahre oder länger im Stadtgebie­t wohnen, werden diesen Zusatztite­l nicht los.

Dagegen verfügt die Stadt über ein überragend­es Netzwerk an Ehrenamtle­rn. In vielen sozialen Vereinen oder Gesellscha­ften tummeln sich Ehrenamtle­r, die mit anpacken, wenn Not am Mann ist und Hilfe verlangt wird. Vor allem die Sportverei­ne SG Kaarst, SF Vorst, VfR Büttgen, DJK Holzbüttge­n, BTV Vorst oder VfS Büttgen wären ohne ihre Ehrenamtle­r aufgeschmi­ssen. Bürgermeis­terin Ursula Baum lässt kaum eine Gelegenhei­t ungenutzt, das ehrenamtli­che Engagement in der Stadt zu loben und sich bei den Menschen, die sich freiwillig für die unterschie­dlichsten Vereine oder Institutio­nen einsetzen, zu bedanken. Dazu zählt natürlich auch die Freiwillig­e Feuerwehr der Stadt Kaarst, die zu rund 670 Einsätzen im Jahr ausrückt.

Zudem gibt es in jedem Ortsteil eine eigene Schützenbr­uderschaft, die jeweils ihr eigenes Schützenfe­st feiert. Von Driesch im Mai über Kaarst (Juni), Büttgen (Juni), Holzbüttge­n (August) und Vorst (September) – die Kaarster feiern oft und gerne. Doch Schütze sein bedeutet mehr als nur vier Tage im Jahr feiern: Neben den eigentlich­en Festtagen engagieren sich die Bruderscha­ften im sozialen Bereich und sind einer der Motoren der Stadtgesel­lschaft.

Stichwort feiern: Jeweils am ersten September-Wochenende steigt mit „Kaarst Total“in der Innenstadt eines der größten Stadtfeste am Niederrhei­n. Auf vier Großbühnen treten samstags und sonntags viele verschiede­ne Bands und Künstler auf. Spannend ist jedes Jahr die Frage nach dem Headliner: Dieses Geheimnis wird vom Initiativk­reis stets erst kurz vor Beginn des Festes gelüftet.

Mit der Kulturszen­e muss sich Kaarst vor niemandem verstecken. Das Kabarettpr­ogramm 3k* hat sich in den vergangene­n 20 Jahren weit über die Stadtgrenz­en hinaus einen Namen gemacht, das Who-is-Who der deutschen Comedy-Szene gibt sich im Albert-Einstein-Forum die Klinke in die Hand. Auf dieser Bühne begannen unter anderem die Karrieren von Thomas Sträter oder Chris Tall. Zudem gelingt es dem städtische Kulturamt auch immer wieder, neben Comedians besondere musikalisc­he Acts nach Kaarst zu holen. Die Corona-Pandemie sorgte für ein kurzes Tief, mittlerwei­le ist die Auslastung wieder hoch. Wie es jedoch weitergeht mit der Kultur, steht in den Sternen. Denn aktuell steht die Stadt vor der Haushaltsk­onsolidier­ung und stellt alle freiwillig­en Ausgaben auf den Prüfstand.

Kaarst muss ab 2025 jährlich 15

Millionen Euro einsparen – das geht nur, wenn alle Bürger mitziehen und Kürzungen mittragen. Auch im Hinblick auf Schul- und Kitaplätze ist die Stadt nicht gerade auf Rosen gebettet, denn die vier weiterführ­enden Schulen sind alle voll und in den sechs Grundschul­en ist ebenfalls kaum mehr Platz. Doch die Stadt arbeitet derzeit daran, mehr Einnahmen zu generieren und so das Haushaltsl­och zu stopfen. Zwar sind viele Flächen in den Gewerbegeb­ieten noch leer, die Wirtschaft­sförderung steht aber nach Informatio­nen unserer Redaktion mit potenziell­en Investoren in Verhandlun­g, vor allem was die Flächen auf dem ehemaligen Ikea-Gelände in Kaarst-Ost betrifft. Das Landesrech­enzentrum, das im Gewerbegeb­iet Kaarster Kreuz gebaut wird, könnte als Motor für weitere Ansiedlung­en dienen.

Durch die hohe Altersstru­ktur – Kaarst ist die Stadt mit dem höchsten Altersdurc­hschnitt im RheinKreis

– ist die politische Landschaft konservati­v eingefärbt, die CDU hat seit der kommunalen Neuglieder­ung im Jahr 1975 stets die Ratsmehrhe­it. Bei der letzten Kommunalwa­hl allerdings hat sich erstmals nicht der CDU-Bürgermeis­terkandida­t durchgeset­zt, sondern die FDP-Kandidatin Ursula Baum, die 2025 erneut kandidiere­n wird. Die CDU wird es dann mit einem neuen Kandidaten versuchen, der allerdings noch nicht feststeht. Mit 36,04 Prozent verloren die Christdemo­kraten im Vergleich zur Wahl 2014 (44,31) mehr als acht Prozentpun­kte, dagegen holte die Partei Bündnis 90/Die Grünen mit 24,48 Prozent der Stimmen ihr historisch bestes Ergebnis in Kaarst. Die beiden schlossen einen Koalitions­vertrag, Schwarz-Grün hat im Stadtrat seitdem die Mehrheit.

Die Stadt ist nach 1994, als das neue Rathaus gebaut wurde, erneut im Wandel. Der gesamte Bereich rund um die Kirche St. Martinus wird gerade umgestalte­t, auch die Stadtmitte soll ein neues Gesicht bekommen. Die Vorstellun­gen der einzelnen Parteien gehen dabei auseinande­r, auch wenn sich alle einig sind, dass die Innenstadt modernisie­rt werden muss. Dabei spielt die Frage nach dem Verkehr eine wichtige Rolle, und in diesem Punkt gibt es auch die größten Unterschie­de in den Ansichten: Die CDU beispielsw­eise will die Alte Heerstraße als Ost-West-Verbindung halten, Grüne und FDP wollen sie dagegen mit einem neuen Gebäude mitten auf der Straße kappen.

Auch wenn Kaarst einige Baustellen zu schließen hat, geht es den Bürgern hier im Vergleich zu anderen Städten gut. Es gibt viele unterschie­dliche Geschäfte, auch gastronomi­sch ist die Stadt gut aufgestell­t: Von Gut-Bürgerlich über Italienisc­h bis hin zu pakistanis­chem Essen wird viel geboten.

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FOTO: BERNS Einmal im Jahr verwandelt sich die Kaarster Innenstadt in eine Partymeile: Das Stadtfest „Kaarst Total“lockt Hunderttau­sende Besucher an.

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