Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Auf dem Weg
Unmittelbare Rechtsvorgänger des Rhein-Kreises waren vor 150 Jahren noch die Kreise Grevenbroich und Neuss.
Ohne Zweifel: Es waren politisch unruhige Zeiten, welche das Kreisgebiet vor 150 Jahren durchlebte. Wie mancherorts, so tobte im Frühjahr 1874 auch in den Kreisen Neuss und Grevenbroich als den unmittelbaren Rechtsvorgängern des heutigen Rhein-Kreises Neuss der „Kulturkampf“– „seit Jahr und Tag der heftigste Conflict“, wie der Rommerskirchener Pfarrer Dr. Christian Heinrich Aumüller (1807 – 1892) in der örtlichen Pfarrchronik notierte. Geführt zwischen dem preußischen Staat einerseits und der katholischen Kirche andererseits, beschrieb der Kulturkampf die erste große innenpolitische Auseinandersetzung des noch jungen Deutschen Reiches von 1871.
Im Kreis Neuss manifestierte sich derselbe nicht nur in den Pfarrgemeinden, in denen etwa über Fragen des Schulwesens oder die vor Ort tätigen Orden gerungen wurde. Der Konflikt führte auch dazu, dass Landrat Hermann Seul (1827 – 1902), der Chef der Kreisverwaltung, der über 20 Jahre an der Spitze des Kreises gestanden hatte, um seine Entlassung aus dem Staatsdienst nachsuchte. Er wurde neuer Direktor der Rheinischen Provincial-Feuer-Societät und kam dadurch seiner drohenden Versetzung zuvor. Der Katholik Seul war schon vor geraumer Zeit ins Visier seiner Vorgesetzten geraten. Dem Düsseldorfer Regierungspräsidenten galt er als „der begabteste und tüchtigste Landrat des … Bezirks“, aber eben auch als ein Mann von „ganz ultramontaner Gesinnung“, dem deshalb nicht zu trauen sei.
Im Kreis Grevenbroich, wo (ebenfalls seit über 20 Jahren) Caspar von Heinsberg (1820 – 1897) das Amt des preußischen Landrats innehatte, waren die Auswirkungen auf die Kreisspitze deutlich weniger gravierend. Aber auch von Heinsberg, ebenfalls Katholik, wurde unter anderem ob „seiner ultramontanen Frau“seitens der preußischen Behörden skeptisch beurteilt. Insofern war es erstaunlich, dass ihm 1876 die (zunächst kommissarische, wenig später die definitive) Verwaltung des Kreises Neuss übertragen wurde. Caspar von Heinsberg war übrigens der einzige Landrat, der beiden Vorgängerkreisen des RheinKreises Neuss vorstand.
Dass sich der Kulturkampf im hiesigen Raum lebhaft entfalten konnte, hatte natürlich mit den konfessionellen Verhältnissen zu tun. Beide Kreise waren damals stark katholisch geprägt, der Kreis Neuss mit einem Katholikenanteil von knapp 97 Prozent im Jahre 1871 noch mehr als der Kreis Grevenbroich, dessen Bevölkerung damals „nur“zu gut 82 Prozent dem katholischen Glauben angehörte.
Traditionell hatten die evangelischen Christen Schwerpunkte in den Gemeinden Wickrath und Kelzenberg, wo ihre Zahl diejenige der Katholiken sogar überstieg. Aber auch in Neukirchen, Jüchen, Garzweiler und Bedburdyck gab es zahlreiche Anhänger des evangelischen Bekenntnisses. In anderen Gemeinden beider Kreise lebten hingegen mehr Menschen jüdischen als evangelischen Glaubens. Jenseits der Konfession beschrieb Religiosität, ja Frömmigkeit für viele Menschen damals zentrale Aspekte ihres Lebens. Neben der eigenen Arbeit war es häufig der kirchliche Festkalender, der dem Leben der Familien Struktur verlieh.
Ähnlich wie Mitte der 1870er Jahre hatten sich die Verhältnisse in den Kreisen Neuss und Grevenbroich schon ausgenommen, als diese im Jahre 1816 durch eine auf den 24. April datierte Bekanntmachung der Düsseldorfer Regierung ins Leben getreten waren. Beide Kreise umfassten damals – wie noch 1874 – 15 Bürgermeistereien, innerhalb derer sich im Laufe der Zeit Gemeinden ausbildeten. Kreissitze waren die Städte Neuss und Grevenbroich, wenngleich sich das landrätliche Büro des Letztgenannten 1874 in Wevelinghoven befand.
An Einwohnern zählte der Kreis Neuss 1816 27.514, der Kreis Grevenbroich 25.886. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts nahm die Bevölkerung jeweils langsam und stetig, gemessen am Regierungsbezirk Düsseldorf aber unterdurchschnittlich zu. 1871 belief sich die Einwohnerzahl des Kreises Grevenbroich auf 38.756, diejenige des Kreises Neuss auf 43.922, was einem Zuwachs von ungefähr 50 Prozent beziehungsweise 60 Prozent gegenüber 1816 entsprach.
Das vergleichsweise zurückhaltende Bevölkerungswachstum lag nicht zuletzt an der wirtschaftlichen Verfasstheit der Kreise. In beiden spielte die Landwirtschaft traditionell eine bedeutsame Rolle. Im Kreis Grevenbroich waren noch 1882 mehr Menschen in der Landund Forstwirtschaft beschäftigt als in Industrie und Gewerbe. Acht Jahre zuvor dürften die Verhältnisse noch eindeutiger zugunsten des erstgenannten Sektors verschoben gewesen sein.
Für den Nachbarkreis Neuss lässt sich den durch Landrat Seul zusammengetragenen „Mittheilungen über die statistischen Verhältnisse … am Ende des Jahres 1871“entnehmen, dass gut 84 Prozent des Kreisgebiets aus Ackerland bestand, „welche[s] der Hauptsache nach zum Anbau von Getreide dien[te]“. Waren es zu Beginn des 19. Jahrhunderts neben Roggen und Weizen vor allem Raps und Flachs gewesen, die im hiesigen Raum angebaut wurden, so traten vor allem die beiden Letztgenannten in der zweiten Jahrhunderthälfte zugunsten der Zuckerrübe zurück.
Diese Veränderung war auch eine Folge der Zuckerfabriken, die in den 1860er und frühen 1870er Jahren in Elsen, Wevelinghoven (beide Kreis Grevenbroich) und Dormagen (Kreis Neuss) entstanden. Die Dormagener Fabrik kann als der erste Industriebetrieb der Gemeinde überhaupt gelten, was insofern keine Ausnahme beschrieb, als sich nicht zuletzt in den Landgemeinden häufig zuerst Unternehmen ansiedelten, die sich der Veredelung landwirtschaftlicher Erzeugnisse widmeten.
Die Zuckerfabriken verweisen bereits darauf, dass unsere beiden Vorgängerkreise 1874 keineswegs nur landwirtschaftlich geprägt waren. Schon gar nicht galt dies für die Kreisstadt Neuss, die 1871 fast 14.000 Einwohner zählte und deren Bevölkerung in den vorangegangenen Jahrzehnten erkennbar stärker gewachsen war als diejenige des übrigen Kreisgebiets. Phasenweise war es sogar so gewesen, dass nur die städtische Bevölkerung zahlenmäßig zugenommen, die ländliche im selben Zeitraum aber abgenommen hatte.
Die alte Hansestadt am Rhein war schon damals das Zentrum der Industrialisierung im Kreisgebiet – eine Tendenz, die sich in den folgenden Jahrzehnten noch verstärken sollte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte sich die Ölmüllerei in der Stadt Neuss zum bedeutendsten Industriezweig entwickelt – bis heute eng verbunden mit dem Namen der Familie Thywissen. 1874 waren dort sieben Dampfölmühlen und drei Wasserölmühlen in Betrieb.
Darüber hinaus spielten die Nahrungsmittelindustrie sowie die metallverarbeitende beziehungsweise die Maschinenbauindustrie eine wichtige Rolle in Neuss. Innovative Neusser Kaufleute hatten ferner eine Eisenhütte im benachbarten (und bis 1909 zum Kreis Neuss gehörigen) Heerdt realisiert. Allerdings geriet diese bereits während des deutsch-französischen Kriegs 1870/71 in Schwierigkeiten; Mitte der 1880er Jahre musste sie endgültig schließen.
Auch für den Kreis Grevenbroich lässt sich eine gewisse Konzentration der Industrie in der Kreisstadt und ihrer Umgebung erkennen. Dominierend waren im damaligen Kreisgebiet die Textilindustrie, welche ihre Schwerpunkte in Wickrath, dem Gebiet der heutigen Stadt Jüchen und eben in Grevenbroich hatte, sowie erneut die metallverarbeitende Industrie und der Maschinenbau.
Als das bekannteste Unternehmen ist die Maschinenfabrik Grevenbroich anzusehen, deren Ursprünge in die französische Zeit und die Schaffensphase des genialen Erfinders Dietrich Uhlhorn (1764 – 1837) zurückreichen. Von den späten 1870er Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs nahm die Zahl der in der Maschinenfabrik Beschäftigten im Großen und Ganzen ständig zu. 1913 überschritt sie erstmals die Schwelle von 1.500.
Dass sich die beiden Kreisstädte zu (den) industriellen Zentren ihres Kreisgebiets entwickelten, hatte auch mit der Verkehrsinfrastruktur zu tun, die für Menschen und Güter gleichermaßen bedeutsam war. Hatte im frühen 19. Jahrhundert selbst der Landrat seine Termine mit der Kutsche oder reitend zu Pferde wahrgenommen, so veränderte namentlich der Eisenbahnbau die Mobilität von Menschen und Waren grundlegend.
Die erste Eisenbahnstrecke, welche das Gebiet des heutigen RheinKreises durchlief, war die 1853 eröffnete Linie Mönchengladbach – Neuss. Zeitnah folgten weitere Verbindungen von Neuss nach Köln (1855), Krefeld (1856) und (nach Inbetriebnahme
der Hammer Eisenbahnbrücke) Düsseldorf (1870). Bedenkt man, dass die Stadt Grevenbroich erst 1869 mit Eröffnung der Strecke Düren – Neuss an das Eisenbahnnetz angeschlossen wurde, so wird deutlich, dass die Stadt Neuss, die überdies über einen Hafen und den Erftkanal verfügte, 1874 auch der zentrale Verkehrsknotenpunkt im heutigen Kreisgebiet war.
Unser Kreisgebiet befand sich vor 150 Jahren folglich in einer Übergangszeit. Auf der einen Seite waren die Vorboten einer Moderne unübersehbar, die mit Hochindustrialisierung, Massennationalismus, Weltkrieg und – später – einer zunehmenden Säkularisierung das Leben der Menschen nachhaltig verändern sollte. Auf der anderen Seite bewegte sich vieles noch mehr oder weniger in den angestammten Bahnen der Vergangenheit.
Letzteres galt nicht zuletzt für die Kreisverwaltungen selbst. Ihre Zuständigkeiten waren noch 1874 ebenso begrenzt wie ihre Mittel. Von einer gestaltenden Tätigkeit der Landräte konnte kaum die Rede sein. Die landrätliche Behörde bestand aus wenigen Personen, die an wechselnden Örtlichkeiten häufig eher notdürftig untergebracht waren. Sogar die Kreisstände als Vorgänger des Kreistages tagten im Kreis Grevenbroich noch in unterschiedlichen Wirtschaften.
Erst die Kreisordnung von 1887/88 definierte die Kreise jenseits ihrer staatlichen Funktion auch als Selbstverwaltungskörperschaften mit eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, denen im Laufe der Zeit vermehrte Aufgaben, eine bessere Finanzausstattung und mehr Personal folgten. Der Bau der Kreishäuser in Grevenbroich und Neuss, bezogen respektive eröffnet 1886 und 1894, steht diesbezüglich sinnbildlich für den Wandel der Behörde – und (auch in dieser Hinsicht) für eine beginnende neue Zeit.