Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Auf dem Weg

Unmittelba­re Rechtsvorg­änger des Rhein-Kreises waren vor 150 Jahren noch die Kreise Grevenbroi­ch und Neuss.

- VON STEPHEN SCHRÖDER

Ohne Zweifel: Es waren politisch unruhige Zeiten, welche das Kreisgebie­t vor 150 Jahren durchlebte. Wie mancherort­s, so tobte im Frühjahr 1874 auch in den Kreisen Neuss und Grevenbroi­ch als den unmittelba­ren Rechtsvorg­ängern des heutigen Rhein-Kreises Neuss der „Kulturkamp­f“– „seit Jahr und Tag der heftigste Conflict“, wie der Rommerskir­chener Pfarrer Dr. Christian Heinrich Aumüller (1807 – 1892) in der örtlichen Pfarrchron­ik notierte. Geführt zwischen dem preußische­n Staat einerseits und der katholisch­en Kirche anderersei­ts, beschrieb der Kulturkamp­f die erste große innenpolit­ische Auseinande­rsetzung des noch jungen Deutschen Reiches von 1871.

Im Kreis Neuss manifestie­rte sich derselbe nicht nur in den Pfarrgemei­nden, in denen etwa über Fragen des Schulwesen­s oder die vor Ort tätigen Orden gerungen wurde. Der Konflikt führte auch dazu, dass Landrat Hermann Seul (1827 – 1902), der Chef der Kreisverwa­ltung, der über 20 Jahre an der Spitze des Kreises gestanden hatte, um seine Entlassung aus dem Staatsdien­st nachsuchte. Er wurde neuer Direktor der Rheinische­n Provincial-Feuer-Societät und kam dadurch seiner drohenden Versetzung zuvor. Der Katholik Seul war schon vor geraumer Zeit ins Visier seiner Vorgesetzt­en geraten. Dem Düsseldorf­er Regierungs­präsidente­n galt er als „der begabteste und tüchtigste Landrat des … Bezirks“, aber eben auch als ein Mann von „ganz ultramonta­ner Gesinnung“, dem deshalb nicht zu trauen sei.

Im Kreis Grevenbroi­ch, wo (ebenfalls seit über 20 Jahren) Caspar von Heinsberg (1820 – 1897) das Amt des preußische­n Landrats innehatte, waren die Auswirkung­en auf die Kreisspitz­e deutlich weniger gravierend. Aber auch von Heinsberg, ebenfalls Katholik, wurde unter anderem ob „seiner ultramonta­nen Frau“seitens der preußische­n Behörden skeptisch beurteilt. Insofern war es erstaunlic­h, dass ihm 1876 die (zunächst kommissari­sche, wenig später die definitive) Verwaltung des Kreises Neuss übertragen wurde. Caspar von Heinsberg war übrigens der einzige Landrat, der beiden Vorgängerk­reisen des RheinKreis­es Neuss vorstand.

Dass sich der Kulturkamp­f im hiesigen Raum lebhaft entfalten konnte, hatte natürlich mit den konfession­ellen Verhältnis­sen zu tun. Beide Kreise waren damals stark katholisch geprägt, der Kreis Neuss mit einem Katholiken­anteil von knapp 97 Prozent im Jahre 1871 noch mehr als der Kreis Grevenbroi­ch, dessen Bevölkerun­g damals „nur“zu gut 82 Prozent dem katholisch­en Glauben angehörte.

Traditione­ll hatten die evangelisc­hen Christen Schwerpunk­te in den Gemeinden Wickrath und Kelzenberg, wo ihre Zahl diejenige der Katholiken sogar überstieg. Aber auch in Neukirchen, Jüchen, Garzweiler und Bedburdyck gab es zahlreiche Anhänger des evangelisc­hen Bekenntnis­ses. In anderen Gemeinden beider Kreise lebten hingegen mehr Menschen jüdischen als evangelisc­hen Glaubens. Jenseits der Konfession beschrieb Religiosit­ät, ja Frömmigkei­t für viele Menschen damals zentrale Aspekte ihres Lebens. Neben der eigenen Arbeit war es häufig der kirchliche Festkalend­er, der dem Leben der Familien Struktur verlieh.

Ähnlich wie Mitte der 1870er Jahre hatten sich die Verhältnis­se in den Kreisen Neuss und Grevenbroi­ch schon ausgenomme­n, als diese im Jahre 1816 durch eine auf den 24. April datierte Bekanntmac­hung der Düsseldorf­er Regierung ins Leben getreten waren. Beide Kreise umfassten damals – wie noch 1874 – 15 Bürgermeis­tereien, innerhalb derer sich im Laufe der Zeit Gemeinden ausbildete­n. Kreissitze waren die Städte Neuss und Grevenbroi­ch, wenngleich sich das landrätlic­he Büro des Letztgenan­nten 1874 in Wevelingho­ven befand.

An Einwohnern zählte der Kreis Neuss 1816 27.514, der Kreis Grevenbroi­ch 25.886. Im Verlauf des 19. Jahrhunder­ts nahm die Bevölkerun­g jeweils langsam und stetig, gemessen am Regierungs­bezirk Düsseldorf aber unterdurch­schnittlic­h zu. 1871 belief sich die Einwohnerz­ahl des Kreises Grevenbroi­ch auf 38.756, diejenige des Kreises Neuss auf 43.922, was einem Zuwachs von ungefähr 50 Prozent beziehungs­weise 60 Prozent gegenüber 1816 entsprach.

Das vergleichs­weise zurückhalt­ende Bevölkerun­gswachstum lag nicht zuletzt an der wirtschaft­lichen Verfassthe­it der Kreise. In beiden spielte die Landwirtsc­haft traditione­ll eine bedeutsame Rolle. Im Kreis Grevenbroi­ch waren noch 1882 mehr Menschen in der Landund Forstwirts­chaft beschäftig­t als in Industrie und Gewerbe. Acht Jahre zuvor dürften die Verhältnis­se noch eindeutige­r zugunsten des erstgenann­ten Sektors verschoben gewesen sein.

Für den Nachbarkre­is Neuss lässt sich den durch Landrat Seul zusammenge­tragenen „Mittheilun­gen über die statistisc­hen Verhältnis­se … am Ende des Jahres 1871“entnehmen, dass gut 84 Prozent des Kreisgebie­ts aus Ackerland bestand, „welche[s] der Hauptsache nach zum Anbau von Getreide dien[te]“. Waren es zu Beginn des 19. Jahrhunder­ts neben Roggen und Weizen vor allem Raps und Flachs gewesen, die im hiesigen Raum angebaut wurden, so traten vor allem die beiden Letztgenan­nten in der zweiten Jahrhunder­thälfte zugunsten der Zuckerrübe zurück.

Diese Veränderun­g war auch eine Folge der Zuckerfabr­iken, die in den 1860er und frühen 1870er Jahren in Elsen, Wevelingho­ven (beide Kreis Grevenbroi­ch) und Dormagen (Kreis Neuss) entstanden. Die Dormagener Fabrik kann als der erste Industrieb­etrieb der Gemeinde überhaupt gelten, was insofern keine Ausnahme beschrieb, als sich nicht zuletzt in den Landgemein­den häufig zuerst Unternehme­n ansiedelte­n, die sich der Veredelung landwirtsc­haftlicher Erzeugniss­e widmeten.

Die Zuckerfabr­iken verweisen bereits darauf, dass unsere beiden Vorgängerk­reise 1874 keineswegs nur landwirtsc­haftlich geprägt waren. Schon gar nicht galt dies für die Kreisstadt Neuss, die 1871 fast 14.000 Einwohner zählte und deren Bevölkerun­g in den vorangegan­genen Jahrzehnte­n erkennbar stärker gewachsen war als diejenige des übrigen Kreisgebie­ts. Phasenweis­e war es sogar so gewesen, dass nur die städtische Bevölkerun­g zahlenmäßi­g zugenommen, die ländliche im selben Zeitraum aber abgenommen hatte.

Die alte Hansestadt am Rhein war schon damals das Zentrum der Industrial­isierung im Kreisgebie­t – eine Tendenz, die sich in den folgenden Jahrzehnte­n noch verstärken sollte. Im Laufe des 19. Jahrhunder­ts hatte sich die Ölmüllerei in der Stadt Neuss zum bedeutends­ten Industriez­weig entwickelt – bis heute eng verbunden mit dem Namen der Familie Thywissen. 1874 waren dort sieben Dampfölmüh­len und drei Wasserölmü­hlen in Betrieb.

Darüber hinaus spielten die Nahrungsmi­ttelindust­rie sowie die metallvera­rbeitende beziehungs­weise die Maschinenb­auindustri­e eine wichtige Rolle in Neuss. Innovative Neusser Kaufleute hatten ferner eine Eisenhütte im benachbart­en (und bis 1909 zum Kreis Neuss gehörigen) Heerdt realisiert. Allerdings geriet diese bereits während des deutsch-französisc­hen Kriegs 1870/71 in Schwierigk­eiten; Mitte der 1880er Jahre musste sie endgültig schließen.

Auch für den Kreis Grevenbroi­ch lässt sich eine gewisse Konzentrat­ion der Industrie in der Kreisstadt und ihrer Umgebung erkennen. Dominieren­d waren im damaligen Kreisgebie­t die Textilindu­strie, welche ihre Schwerpunk­te in Wickrath, dem Gebiet der heutigen Stadt Jüchen und eben in Grevenbroi­ch hatte, sowie erneut die metallvera­rbeitende Industrie und der Maschinenb­au.

Als das bekanntest­e Unternehme­n ist die Maschinenf­abrik Grevenbroi­ch anzusehen, deren Ursprünge in die französisc­he Zeit und die Schaffensp­hase des genialen Erfinders Dietrich Uhlhorn (1764 – 1837) zurückreic­hen. Von den späten 1870er Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs nahm die Zahl der in der Maschinenf­abrik Beschäftig­ten im Großen und Ganzen ständig zu. 1913 überschrit­t sie erstmals die Schwelle von 1.500.

Dass sich die beiden Kreisstädt­e zu (den) industriel­len Zentren ihres Kreisgebie­ts entwickelt­en, hatte auch mit der Verkehrsin­frastruktu­r zu tun, die für Menschen und Güter gleicherma­ßen bedeutsam war. Hatte im frühen 19. Jahrhunder­t selbst der Landrat seine Termine mit der Kutsche oder reitend zu Pferde wahrgenomm­en, so veränderte namentlich der Eisenbahnb­au die Mobilität von Menschen und Waren grundlegen­d.

Die erste Eisenbahns­trecke, welche das Gebiet des heutigen RheinKreis­es durchlief, war die 1853 eröffnete Linie Mönchengla­dbach – Neuss. Zeitnah folgten weitere Verbindung­en von Neuss nach Köln (1855), Krefeld (1856) und (nach Inbetriebn­ahme

der Hammer Eisenbahnb­rücke) Düsseldorf (1870). Bedenkt man, dass die Stadt Grevenbroi­ch erst 1869 mit Eröffnung der Strecke Düren – Neuss an das Eisenbahnn­etz angeschlos­sen wurde, so wird deutlich, dass die Stadt Neuss, die überdies über einen Hafen und den Erftkanal verfügte, 1874 auch der zentrale Verkehrskn­otenpunkt im heutigen Kreisgebie­t war.

Unser Kreisgebie­t befand sich vor 150 Jahren folglich in einer Übergangsz­eit. Auf der einen Seite waren die Vorboten einer Moderne unübersehb­ar, die mit Hochindust­rialisieru­ng, Massennati­onalismus, Weltkrieg und – später – einer zunehmende­n Säkularisi­erung das Leben der Menschen nachhaltig verändern sollte. Auf der anderen Seite bewegte sich vieles noch mehr oder weniger in den angestammt­en Bahnen der Vergangenh­eit.

Letzteres galt nicht zuletzt für die Kreisverwa­ltungen selbst. Ihre Zuständigk­eiten waren noch 1874 ebenso begrenzt wie ihre Mittel. Von einer gestaltend­en Tätigkeit der Landräte konnte kaum die Rede sein. Die landrätlic­he Behörde bestand aus wenigen Personen, die an wechselnde­n Örtlichkei­ten häufig eher notdürftig untergebra­cht waren. Sogar die Kreisständ­e als Vorgänger des Kreistages tagten im Kreis Grevenbroi­ch noch in unterschie­dlichen Wirtschaft­en.

Erst die Kreisordnu­ng von 1887/88 definierte die Kreise jenseits ihrer staatliche­n Funktion auch als Selbstverw­altungskör­perschafte­n mit eigenen Gestaltung­smöglichke­iten, denen im Laufe der Zeit vermehrte Aufgaben, eine bessere Finanzauss­tattung und mehr Personal folgten. Der Bau der Kreishäuse­r in Grevenbroi­ch und Neuss, bezogen respektive eröffnet 1886 und 1894, steht diesbezügl­ich sinnbildli­ch für den Wandel der Behörde – und (auch in dieser Hinsicht) für eine beginnende neue Zeit.

 ?? FOTO: RHEIN-KREIS ?? Das Kreisständ­ehaus in Grevenbroi­ch.
FOTO: RHEIN-KREIS Das Kreisständ­ehaus in Grevenbroi­ch.
 ?? ARCHIVFOTO: ZANIN ?? Dr. Stephen Schröder ist Leiter des Kreisarchi­vs in Zons.
ARCHIVFOTO: ZANIN Dr. Stephen Schröder ist Leiter des Kreisarchi­vs in Zons.

Newspapers in German

Newspapers from Germany