Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die nächste Eskalation­sstufe

- VON MARTIN KESSLER

Kremlchef Putin raubt ukrainisch­es Gebiet und holt sich nach der Einschücht­erung der Bevölkerun­g in Scheinrefe­renden die Legitimati­on. Das verheißt nichts Gutes.

DÜSSELDORF Wladimir Putin hat die Annexion der ostukraini­schen Gebiete detaillier­t geplant – und mit der offizielle­n Feier am Freitag besiegelt. Die wichtigste­n Antworten zu den Folgen des Landraubs für Russland, die Ukraine und die Welt.

Was bedeutet die Annexion der vier Regionen? Kreml-Chef Putin ist selbst bei seinen verbrecher­ischen Aktionen immer um ein Stück Schein-Legitimati­on bemüht. „Die Fake-Legalität Putins zielt auf die Innenpolit­ik ab“, sagt Thomas Jäger, der an der Universitä­t Köln den Lehrstuhl für Internatio­nale Politik bekleidet. Putin möchte zeigen, so der Außenpolit­ik-Experte, dass es sich um „ein formal korrektes Verfahren handelt, das den Willen der Bevölkerun­g in den Gebieten widerspieg­elt“.

Wie vertragen sich die Annexionen mit dem Völkerrech­t? Aus Sicht des Völkerrech­ts, wie es in der Charta der Vereinten Nationen (UN) niedergele­gt ist, bedeutet Putins Vorgehen einen glatten Bruch der internatio­nalen Regeln. UN-Generalsek­retär António Guterres wird deutlich: In New York sagte er, die Ankündigun­g des Kremls stelle eine gefährlich­e Eskalation dar, habe keinen Platz in der modernen Welt und dürfe nicht akzeptiert werden. Der Hamburger Völkerrech­tler und Professor an der Bucerius Law School, Jörn Axel Kämmerer, bestätigt: „Annexionen sind generell völkerrech­tswidrig – egal ob mit oder ohne Abstimmung. Sie sind erstens verboten und zweitens unwirksam.“

Was sagen Länder, die bisher Putin offen oder heimlich unterstütz­t haben? Der wichtigste Unterstütz­er Putins ist der chinesisch­e Staatschef Xi Jinping. Er schweigt zu den Annexionen. Recht dürften sie ihm kaum sein. Denn seine Ein-China-Politik, die Taiwan als Teil der Volksrepub­lik ansieht, basiert auf internatio­nalen Regeln, die von einem Großteil aller in den UN vertretene­n Ländern anerkannt werden. Diese Position würde er gefährden, wenn er Putins Annexionen gutheißt. Auch Indien, Brasilien, Kasachstan, die Türkei und Südafrika dürften die Gebietszuw­ächse Russlands nicht anerkennen.

Was bedeutet die Annexion für die Menschen dort? Russland hat einschließ­lich der bereits auf ähnliche Weise 2014 annektiert­en Schwarzmee­r-Halbinsel Krim der Ukraine fast 20 Prozent ihres Staatsgebi­ets entwendet. Der Kreml ködert die dort verblieben­en Menschen mit der historisch­en Heimkehr zum Mutterland. Zum anderen gibt es für sie auch höhere Renten und Sozialleis­tungen. Wie bei der Krim-Annexion sollen die Menschen automatisc­h russische Staatsbürg­er werden.

Wie reagiert die russische Bevölkerun­g auf die neuen Annexionen? Eine Euphorie wie bei der Annexion der Krim 2014 fällt in Russland diesmal aus. Der Krieg mit seinen Zehntausen­den von Toten ist viel zu nahe gerückt.

Wie begründet Putin die Annexion? Der Kremlchef will angeblich die dortige Zivilbevöl­kerung vor Angriffen ukrainisch­er Nationalis­ten schützen. Das wird inzwischen auch von russischen Soldaten für reine Propaganda gehalten, weil sie nirgends solche Nazis finden.

Werden die Annexionen den Krieg in der Ukraine weiter eskalieren? Davon ist leider auszugehen. Mit der Annexion gelingt es Putin, mögliche Schläge der Ukraine bei ihrer Offensive als Angriffe auf russisches Territoriu­m zu werten. Völkerrech­tlich hat das keine Bedeutung. „Es ist absolut perfide, Gebiete zu erobern, Menschen zu vertreiben, die zurückgebl­iebenen Personen in gläsernen Urnen zu einer Gebietsabt­retung zu zwingen und sich dann möglicherw­eise auf ein Selbstvert­eidigungsr­echt zu stützen, wenn die Ukraine auf diesem Gebiet Waffen einsetzt“, sagt Kämmerer.

Allerdings versucht Putin damit, die Anzahl seiner Optionen zu erhöhen. Nach der Militärdok­trin des Kreml kann er jetzt Atomwaffen zur Verteidigu­ng des nunmehr russischen Staatsgebi­ets einsetzen. Er wird auch versuchen, Waffenlief­erungen an Kiew als direkte militärisc­he Einmischun­g des Westens in den Krieg anzusehen. Das eröffnet ihm in seiner Logik grundsätzl­ich Schläge gegen Nato-Nachschubl­inien. Die Wahrschein­lichkeit eines direkten Konflikts der Nato mit Russland ist jedenfalls gestiegen.

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