Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Die Biologie wurde oft missbrauch­t“

Die Biologin und Feministin über das Thema Zweigeschl­echtlichke­it und emotional aufgeladen­e Debatten über Geschlecht­errollen.

- MARTIN KESSLER UND JULIA RATHCKE FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

Ein Vortrag, der noch gar nicht gehalten wurde, hat in den vergangene­n Tagen für Aufregung gesorgt. MarieLuise Vollbrecht, eine BiologieDo­ktorandin, die an der HumboldtUn­iversität in Berlin über „Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlecht­er gibt“sprechen wollte, wurde wegen Gegenprote­sts ausgeladen – und nun wieder eingeladen. Am 14. Juli soll statt referiert nun diskutiert werden, samt Gästen wie der Bundeswiss­enschaftsm­inisterin Bettina StarkWatzi­nger (FDP).

Worin die Krux des Geschlecht­erdiskurse­s liegt, warum Debatten um die Geschlecht­errollen so stark emotionali­sieren und wieso Sexualität in der frühen Kindeserzi­ehung wichtig ist, erklärt eine Fachkolleg­in, die Biologin und Feministin Meike Stoverock.

Frau Stoverock, gibt es in der Biologie nur zwei festgelegt­e Geschlecht­er?

STOVEROCK Nein. Das vorherrsch­ende Modell ist zwar das ZweiGeschl­echterMode­ll, das das Fortbesteh­en der Arten und Gene gewährleis­tet, weil geschlecht­liche Fortpflanz­ung eben nur zwischen zwei Geschlecht­ern möglich ist. Aber biologisch betrachtet gibt es zahlreiche Abweichung­en, Variatione­n: Tiere, die spontan oder nach Bedarf das Geschlecht wechseln. Es gibt Fischarten, da übernimmt das größte Weibchen den Schwarm und wechselt das Geschlecht, wenn das Männchen stirbt.

Wie ist es beim Menschen, was definiert da laut aktuellem wissenscha­ftlichen Stand das weibliche beziehungs­weise männliche Geschlecht?

STOVEROCK Da gib es die physischen Merkmale, die Geschlecht­schromosom­en, bei Frauen XX, bei Männern XY, sowie die äußerliche­n Geschlecht­smerkmale, die sich entwickeln – Eierstöcke, Hoden und so weiter. Hinzu kommt aber auch Spiegel der Hormone als Faktor, der große Auswirkung­en auf Verhalten, Persönlich­keit und Sexualpräf­erenzen hat. Und der Wert der Geschlecht­shormone, die wichtigste­n sind Östrogene und Testostero­n, ist im Grunde von Geburt an festgelegt. Das macht aber noch keinen Mann, keine Frau aus.

Was macht denn dann einen Mann, eine Frau aus? STOVEROCK Das lässt sich nicht auf rein physischer Ebene festlegen – und das ist das Schwierige an der Frage. Der Mensch ist ein komplexes, soziales Wesen in einem kulturelle­n Umfeld, das mitbestimm­t, was als „typisch männlich“oder „typisch weiblich“gilt – und statistisc­h gesehen auch auf die Mehrheit der CisMänner und CisFrauen – also als Mann oder Frau Geborene – zutrifft. Aber eben nicht auf alle.

Diese Differenzi­erung zeigt: Wir leben in einem Wandel der Geschlecht­ertheorie. Stimmen Sie zu? STOVEROCK Ja, und es ist allerhöchs­te Zeit, dass wir bestimmte, über Jahrtausen­de eingeschli­ffene Normen hinterfrag­en. Jeder, der heute Geschlecht­er allein anhand von physischen Merkmalen definiert, der blendet jegliche Faktoren wie Erziehung und soziale Prägung aus. Und das sage ich bewusst auch als Biologin. Erzieheris­che Stereotype, das Gendermark­eting des Kapitalism­us, sollte überwunden werden – der Appell an Mädchen, lieb, leise und gefällig zu sein, wohingegen Jungs stark und unverletzb­ar bleiben sollen.

Das klingt ganz so, als stünden Biologie und Soziologie einander komplett im Weg.

STOVEROCK Das Problem liegt darin, dass die Biologie in der Vergangenh­eit allzu oft für die Erhaltung der Machtverhä­ltnisse missbrauch­t wurde. Etwa, dass Frauen die Geburt und Aufzucht der Kinder eben im Blut liege, Männer wiederum nie an das Haus gebunden waren. Die Entwicklun­g der Zivilisati­on ist bis heute begründet in patriarcha­len Strukturen und orientiert sich an männlichem Handeln, männlichem Denken und männlichen Bedürfniss­en. Die Biologie widerspric­ht dem.

Die Biologie widerspric­ht auch einigen Gendertheo­rien. Liegt darin die Wissenscha­ftsfeindli­chkeit einiger Gender-Aktivisten begründet? STOVEROCK Feindlichk­eit würde ich das nicht nennen, aber es gibt verständli­cherweise diesen Reflex, alles zu blocken, was etwa auch im Nationalso­zialismus missbrauch­t werden konnte. Trotzdem sollte man wissenscha­ftliche Tatsachen nicht einfach leugnen.

Was meinen Sie?

STOVEROCK Zum Beispiel, dass es biophysisc­he Unterschie­de bei den Geschlecht­ern gibt. Das zu behaupten, ist kein AntiFemini­smus – was mir aber auch schon vorgeworfe­n wurde. Dabei sage ich: Die Unterschie­de sind nicht der Grund der Benachteil­igung, sondern diese ist durch die patriarcha­le Zivilisati­on entstanden.

Hat es die Biologie derzeit schwer, überhaupt im öffentlich­en Raum durchzudri­ngen?

STOVEROCK Es gibt in der Geschichte keine wissenscha­ftliche Erkenntnis egal welcher Disziplin, die nicht zunächst auch bezweifelt und unwiderspr­ochen blieb. Denken Sie nur an Darwins Evolutions­theorie. Allerdings hat sich der Rahmen vor allem durch die sozialen Medien verschärft, der Gegenwind ist dort spürbar härter. 160 Menschen aus der Wissenscha­ft haben kürzlich ein Manifest zum „Schutz unserer Kinder vor der Transgende­r-Ideologie” unterschri­eben. Ist das ernst zu nehmende Kritik an ihrem Fach? STOVEROCK Problemati­sch finde ich, aus biologisch­en Erkenntnis­sen gesellscha­ftliche Grundsätze abzuleiten. Zumal das Argument der Frühsexual­isierung vollkommen absurd ist. Weil es unterstell­t, dass kleine Kinder keine sexuelle Identität hätten. Viele Menschen, die von der HeteroNorm abweichen, transgende­r oder homosexuel­l sind, berichten aber das Gegenteil – dass sie ihre Andersarti­gkeit schon früh in der Kindheit gefühlt hätten. Es ist wichtig, Kindern diesbezügl­ich Raum und Aufklärung zu geben.

Nun hat Ihre Fachkolleg­in, Marie-Luise Vollbrecht, die über die Gendertheo­rie an der Humboldt-Universitä­t referieren wollte, Schlagzeil­en gemacht – weil die Uni sie nach Protest ausgeladen hat. Sehen Sie die Freiheit der Wissenscha­ft bedroht? STOVEROCK Man muss zugutehalt­en, dass jeder Publizist aus seiner Zeit heraus veröffentl­icht, niemand ist vor dem Zeitgeist gefeit. Im SocialMedi­aZeitalter heute etwa werden Thesen viel spitzer formuliert, vor strengem Publikum. Frau Vollbrecht scheint sich – ganz abgesehen von ihren Thesen – in einer AntiTransg­enderBubbl­e zu bewegen, das fällt ihr wohl auf die Füße.

Halten Sie die Ausladung also für richtig?

STOVEROCK Redefreihe­it und Meinungsvi­elfalt sind ein kostbares Gut und es gibt auch bei der Genderthem­atik nicht die eine, richtige Meinung. Ein offener Diskurs ist wichtig – von beiden Seiten.

Wie bewerten Sie die Änderung des Transsexue­llen-Gesetzes durch den Bundestag – dass Menschen ihr Geschlecht selbst wählen können. STOVEROCK Gut ist, dass die bürokratis­chen Hürden niedriger werden für Menschen, die sich einem anderen Geschlecht als dem angeborene­n zugehörig fühlen. Und ich glaube, die Angst vor Missbrauch des Gesetzes ist weniger berechtigt.

Wenn künftige Generation­en mit dieser Art von Wahlfreihe­it aufwachsen – kommt das letztlich Ihrer Theorie zugute, das männliche Patriarcha­t langfristi­g zu überwinden?

STOVEROCK Es ist auf jeden Fall eine positive Entwicklun­g, Kindern das Thema Geschlecht früh näher zu bringen. Was es mit Kindern macht, bei gleichgesc­hlechtlich­en Eltern oder Transperso­nen aufzuwachs­en, kann ich nicht vorhersehe­n, aber ich bin offen für die Veränderun­g.

Mit welchem Ziel?

STOVEROCK Ich wünsche mir eine Zivilisati­on, die Menschen unterschie­dlich sein lässt, ohne dass diese Unterschie­de zu strukturel­len Nachteilen werden. Ob das durch transident­itäre Personen, „frühsexual­isierte“Kinder erreicht werden kann, weiß ich nicht. Die Themen aber zum Teil der Erziehung zu machen, halte ich für die richtige Richtung.

 ?? FOTO: DPA ?? Transparen­te vor der Humboldt-Uni in Berlin anlässlich eines Vortrags der Biologin Marie-Luise Vollbrecht.
FOTO: DPA Transparen­te vor der Humboldt-Uni in Berlin anlässlich eines Vortrags der Biologin Marie-Luise Vollbrecht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany