Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Jung, gebildet, orientieru­ngslos

Viele Schüler haben Probleme, den passenden Beruf zu finden. Das zeigt eine aktuelle Studie. Woran liegt das?

- VON JANA MARQUARDT

WERDOHL/MÖNCHENGLA­DBACH Eigentlich stehen Ilayda Dogan alle Türen offen: Sie hat ein gutes Abitur gemacht, engagiert sich politisch und ist vielseitig interessie­rt. Sie kann gut organisier­en und koordinier­en, ist redegewand­t und spricht fließend Englisch. Trotzdem hat sie Schwierigk­eiten, den passenden Beruf für sich zu finden: „Ich weiß einfach nicht, was ich will, weil es so viele interessan­te Möglichkei­ten gibt“, sagt die 19-Jährige aus Werdohl im Sauerland. „Ich würde sogar sagen: zu viele. Das überforder­t mich.“Gleichzeit­ig sei sie in der Schule nicht genügend auf das Leben nach dem Abitur vorbereite­t worden.

Die Folge: Sie wird nicht – wie ihre Eltern es gerne gesehen hätten – direkt nach dem Abitur studieren oder eine Ausbildung beginnen. Sie will sich erst ausprobier­en. Und nach einem Jahr entscheide­n, wo es hingehen soll. Damit ist Dogan bei Weitem nicht alleine. 53 Prozent der 14- bis 20-Jährigen fühlen sich laut einer aktuellen Studie der Bertelsman­n-Stiftung mit dem Angebot zur Jobwahl überforder­t. Und 37 Prozent bewerten die Unterstütz­ung bei ihrer Berufsfind­ung nur als ausreichen­d. Das liegt laut der Stiftung unter anderem daran, dass während der Pandemie viele Praktika und Berufsorie­ntierungst­age ausgefalle­n sind. So hätten die Schülerinn­en und Schüler keine Möglichkei­t gehabt, praktische Erfahrunge­n zu sammeln.

Überrasche­nd ist, dass viele eher analoge Informatio­nsquellen nutzen, als sich im Internet zu informiere­n. 48 Prozent der Jugendlich­en gaben an, dass sie sich am liebsten mit Lehrern, Berufsbera­tern oder Ausbildern über ihre Jobwahl unterhielt­en. Für 73 Prozent sind die Eltern Ansprechpa­rtner Nummer eins. Darauf folgen die Schule, beziehungs­weise Lehrkräfte (55 Prozent), dann erst das Internet (48 Prozent) und schließlic­h die Agentur für Arbeit (36 Prozent). Letztere spielt der Studie zufolge vor allem für Jugendlich­e mit niedriger Schulbildu­ng eine große Rolle bei der Berufsfind­ung.

Marie Lina Hanke brauchte diese Angebote eigentlich nie. Seit ihrem sechsten Lebensjahr hatte sie einen Plan, wollte Sängerin werden, klassische­n Gesang studieren. Während der Schulzeit übte die 18-Jährige aus Mönchengla­dbach mehrere Tage pro Woche in der Musikschul­e, lernte theoretisc­he Grundlagen für die Aufnahmepr­üfungen an den Universitä­ten. Ihr wurde aber auch immer wieder gesagt, dass der Berufsallt­ag für Künstlerin­nen sehr hart sei. Man müsse mit sehr viel Stress umgehen können, immer wieder mit anderen Sängerinne­n konkurrier­en. Und gute Stimmen, die gebe es sowieso wie Sand am Meer. Als das Abitur näher rückte, zweifelte sie immer mehr an ihrem Weg: „Ich wusste nicht, ob ich dem Druck gewachsen sein würde“, sagt Hanke. Sie ging seltener zur Musikschul­e, lernte mehr für die Klausuren. Ihr Ziel war es, ihren Schnitt zu halten. Und sie schaffte es: Mit einer Abiturnote von 0,8 schloss sie ihre Schulzeit in diesem Sommer ab.

Auch ihr stehen also alle Türen offen – und doch ist sie unentschlo­ssen, was sie mit ihrem Leben anfangen soll: „Während der Schulzeit hatte ich nie wirklich Gelegenhei­t, irgendetwa­s auszuprobi­eren“, sagt sie. Ihr zweiwöchig­es Praktikum in der zehnten Klasse sei pandemiebe­dingt ausgefalle­n, später habe sie mal für einige Tage in eine Kindertage­sstätte hineinscha­uen dürfen. Es gab auch mal eine Potenziala­nalyse in der Oberstufe, aber die habe ihr gar nichts gebracht. Sie kann sich nicht mehr erinnern, was dabei herauskam, aber es sei nichts gewesen, was sie auch nur im Ansatz interessie­rt hätte: „In der Schule wurden uns bloß die klassische­n Berufe vorgestell­t, die sowieso jeder kennt“, sagt Hanke. „Mich hätten aber die künstleris­chen Jobs viel mehr gereizt.“

Gemeinsam mit ihrer Mutter suchte sie im Internet nach Studienang­eboten, bewarb sich auf mehrere Studiengän­ge in Köln, unter anderem Psychologi­e und einige Geisteswis­senschafte­n. „Eigentlich sollte ich meinen Abiturschn­itt ja nutzen, aber Medizin interessie­rt mich überhaupt nicht und Jura ist wahrschein­lich auch nicht das Richtige“, sagt sie. Sie möchte einen Beruf, der ihr Spaß macht. Das ist ihr wichtiger als Gehalt oder Sicherheit.

Das hätte Ilayda Dogan vor einigen Monaten auch noch gesagt. Doch seitdem sei viel passiert. „Wir leben wegen des russischen Angriffskr­iegs, der Inflation und des Klimawande­ls in einer Zeit der Krisen“, sagt sie. Da sei ihr ein sicherer Job inzwischen wichtiger. Sie werde daher erst ein Praktikum in einer Kanzlei machen und anschließe­nd eine dreimonati­ge Ausbildung zur Rettungssa­nitäterin. Danach werde sie besser wissen, was sie machen möchte. „Ich weiß auch, dass ich in einer sehr privilegie­rten Situation bin“, sagt sie. Nicht jeder habe die finanziell­en Mittel, sich so viel Zeit zu lassen. Einige ihrer Freunde starteten deshalb direkt in eine Ausbildung.

Marie Lina Hanke und Ilayda Dogan haben beide mitten in der Pandemie ihr Abitur gemacht. Sie mussten unter erschwerte­n Bedingunge­n nach dem richtigen Job suchen. Angesichts der großen Krisen dieser Welt bleibt es fraglich, ob es für die Jahrgänge nach ihnen leichter wird.

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