Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Dröhnende Glückseligkeit
Auf dem Parookaville-Festival feierten in Weeze täglich mehr als 70.000 Menschen in einer detailverliebt gestalteten Parallelwelt.
WEEZE Offene Arme recken sich dem blaugrauen Sommerhimmel entgegen, nehmen eine Wolke aus pinken Papierschnipseln in Empfang, die langsam niederregnet. Der Bass pulsiert in der Brust, lässt die Haare zu Berge und die Füße nicht stillstehen. Mit geschlossenen Augen und geöffneten Mündern jubeln Tausende – so laut, dass ihre Rufe von den rostroten Bühnenwänden widerhallen, die sich vor der Masse auftürmen. Es ist ein Augenblick der Ausgelassenheit. Im Alltag so selten, dass man ihn nicht mehr loslassen möchte. Hier begegnet man ihm wieder und wieder.
Hier, mitten zwischen Feldern und Wiesen nahe Weeze. In einer Festivalstadt, die innerhalb von sechs Wochen aus dem Nichts entstand. Über vier Tage hinweg bietet das Parookaville-Festival am Niederrhein täglich rund 75.000 Menschen ein Zuhause. Menschen, die sich in den Armen liegen und gemeinsam dem dröhnenden Bass entgegentanzen. Die sich in das Fell eines überdimensionalen Teddybären fallen lassen oder vom Deck eines Schiffsrumpfs aus das Treiben beobachten. Die lachen, johlen und mitsingen, bis die Stimme versagt.
Fünf Stunden zuvor gleicht das Gelände am Freitag noch einer Geisterstadt. Einige Lkw rollen über das Gelände, ein letztes Mal wird die Technik der zehn Bühnen gecheckt. Lautsprecher, LED-Wände und Scheinwerfer müssen drei Tage lang bis tief in die Nacht funktionieren, denn die Menschen erwarten eine Dauerparty. Vom Zeltplatz wehen leise Lieder herüber, akustische Vorboten dessen, was kommt. Zehntausende feiern hier zusammen, nach zwei Jahren Festival-Pause besteht dringend Nachholbedarf. Schon 20 Minuten vor der Öffnung des Geländes warten manche von ihnen an den Absperrgittern. Sofort erkunden sie jubelnd das weitläufige Straßennetz, als die Tore von Parookaville entriegelt werden. „Wir versuchen, direkt so viel wie möglich mitzuerleben“, sagt Eileen Zwick, die zu den Ersten auf dem Gelände gehört. Sie will tagelang in eine andere Welt eintauchen, einfach alle Sorgen vergessen. „Als Mutter habe ich etwas Auszeit dringend nötig“, sagt die 31-Jährige und läuft lachend mit ihrer Schwester in Richtung Riesenrad.
Auch Klaus Brehler hat sehnsüchtig auf den Start des Festivals gewartet. Er steht ganz vorne vor der Hauptbühne, deren Boxentürme meterhoch in die Luft ragen. Gerade erzählt der 62-Jährige, wie
Boris Almeida reiste aus Ecuador an sehr er elektronische Musik mag, als plötzlich der erste dumpfe Basston wie ein Paukenschlag durch Mark und Bein geht. „Geil!“, ruft Brehler. Der Mann mit schneeweißen Haaren und oranger Sonnenbrille dreht sich zur Bühne um, sein Körper folgt augenblicklich dem Rhythmus der Musik. Hunderte Besucher tun es ihm gleich, als das niederländische DJ-Duo Lucas & Steve sein Konzert eröffnet. Die Frauen und Männer an den Mischpulten regieren Parookaville. Sie geben den Takt vor, führen das Publikum mit einem effektiven Konzept aus dem Alltag heraus: Bekannte Liedpassagen aus verschiedensten Musikgenres verschmelzen mit konsequent tanzbaren Beats. Kombiniert mit Konfettikanonen, Flammenwerfern und Lasern blasen die Auftritte der Künstler jegliche Sorgen aus dem Kopf.
Musikalisch ähneln sich einige Shows etwas zu sehr. Lieder wiederholen sich, wirklich neue Rhythmen hat kaum ein Künstler mitgebracht. Gleichzeitig ist bei einem Angebot von mehr als 300 DJs und Musikern für jeden Geschmack etwas dabei: So hat beispielsweise auch die Kölner Band Kasalla einen Auftritt. Ihr Konzert am Samstag zieht so viele Menschen an, dass es aus Sicherheitsgründen abgebrochen wird. Man habe die Lage schnell deeskalieren können, Verletzte habe es nicht gegeben, teilt ein Parookaville-Sprecher mit. Purple Disco Machine aus Dresden, dessen Hits wie „In the Dark“regelmäßig im Radio laufen, entführte das Publikum mit Funky-Feel-Good-Liedern in die 70er- und 80er-Jahre. Beim Auftritt von DJ Alle Farben liegt wunderbare Leichtigkeit in der Luft, und Tiesto inszeniert mit brachialen Synthesizer-Melodien und sägenden Bässen eine elektrisierende Show. Der niederländische Künstler ist nur einer von vielen internationalen Stars, die beim Festival dabei sind. Hier wechseln sich Afrojack, Steve Aoki, Alan Walker und Robin Schulz am Pult ab.
An ihren Shows teilnehmen kann jeder Besucher auf seine Art. Manche stehen dicht gedrängt in einem Meer aus Händen, zwischen denen aufblasbare Gummipalmen auf und ab hüpfen und Fahnen geschwenkt werden. Andere tanzen in sich gekehrt weiter hinten auf der Wiese, Rollstuhlfahrer genießen den Blick auf das weitläufige Gelände vor den Bühnen.
Die beeindruckend gestalteten Kulissen sind das Herzstück von Parookaville. Doch auch abseits der musikalischen Monumente warten an jeder Ecke kleine und große Überraschungen: eine riesige Glasflasche auf Stelzen zum Beispiel, in deren Innerem sich ein Club befindet. Oder ein 150 Tonnen schweres Eisbrecher-Schiff, das hier in der
Stadt gestrandet ist. Es gibt eine Kirche, ein Postamt und ein Schwimmbad. In einer Wüstenregion kann geschaukelt und geklettert werden, in einem Wald mit Hängematten und Lichterketten darf entspannt werden. All das verbindet sich zu einer dystopisch gestalteten Parallelwelt, die in den Abendstunden in grellen Farben erstrahlt. Es ist ein Ort abseits von Normalität und Normen. Diese Art des detailverliebten Eskapismus muss man sich allerdings leisten können: Eine Tageskarte für Parookaville kostet etwa 100 Euro. Für das Essen zahlen Besucher meist acht Euro oder mehr. Selbst ein Cappuccino kostet vier Euro. Wasser gibt es dagegen gratis an Zapfstationen.
Den Besuchern ist es das jedoch wert. Die Menschen wollen übermütig feiern, sehen und gesehen werden. Viele kleiden sich herrlich bunt. Sie haben ihre Gesichter mit silberner Schminke dekoriert, tragen neonpinke Anzüge und glitzernde Kleider. Am wichtigsten ist ihnen jedoch das Gemeinschaftsgefühl. „Ich habe so eine lange Reise hinter mir und fühle mich trotzdem wie zu Hause“, sagt Boris Almeida. „Alle hier sind so glücklich und freundlich zueinander. Die Stimmung ist unglaublich.“Der 24-Jährige hat einen Tag für seine Reise von Ecuador bis nach Weeze gebraucht. Jetzt steht er mit der gelb-blau-roten Landesflagge über der Schulter vor der Hauptbühne. „So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt der Zahnarzt und schüttelt ungläubig den Kopf. „Das Adrenalin, die Masse an Menschen, die Musik.“Er atmet einmal tief durch und verschwindet in der Menge, die bereits darauf wartet, dass die nächste Welle aus tiefen Bässen und eingängigen Melodien über sie hereinbricht. Sie mitnimmt an einen Ort der dröhnenden Glückseligkeit, an dem man sich einfach fallenlassen kann.
„Alle hier sind so glücklich und freundlich zueinander. Die Stimmung ist unglaublich“