Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Zinssteige­rung hat die Börse kaltgelass­en

Der Deutsche Aktieninde­x hat trotz des Entscheids der EZB kaum verloren. Dafür gibt es mehrere Erklärungs­ansätze.

- VON GEORG WINTERS

DÜSSELDORF Die Theorie ist ganz einfach: Wenn eine Notenbank den Leitzins erhöht, ist das in der Regel schlecht für die Aktienkurs­e. Erstens, weil unter anderem die Geldbescha­ffung dadurch teurer wird für Unternehme­n, die beispielsw­eise einen Kredit aufnehmen wollen (oder müssen) und dadurch Mehrkosten haben, die den Gewinn schmälern. Das drückt dann auf den Aktienkurs. Zweitens, weil nach einer Zinserhöhu­ng festverzin­sliche Geldanlage­n für Investoren attraktive­r werden und Aktien umgekehrt an Reiz verlieren.

Also müssten die Kurse nach einer Zinserhöhu­ng sinken. Eigentlich. Je nach Ausmaß des Zinsschrit­ts sogar mehr oder weniger deutlich. Doch Theorie ist Theorie – in der Praxis sieht das mitunter ganz anders aus. Am Donnerstag hat der Deutsche Aktieninde­x (Dax) nur 0,3 Prozent an Wert verloren, obwohl die Europäisch­e Zentralban­k (EZB) den

Leitzins erhöht hat. Mit einer Anhebung auf 0,5 Prozent hat sie das sogar in einem Ausmaß getan, das viele überrascht hat. Warum haben die Märkte – nicht nur an der deutschen Börse hat sich wenig bewegt – trotzdem so entspannt reagiert? Am Freitagmit­tag lagen der Dax und die meisten seiner Werte sogar leicht im Plus. Verkehrte Börsenwelt? Keineswegs.

Eine mögliche Erklärung liefert Chris-Oliver Schickenta­nz, künftiger Chefanlage­stratege des unabhängig­en Vermögensv­erwalters Capitell: „Die Inflations­debatte hat wohl ihren Höhepunkt überschrit­ten. Die Preise für Industriem­etalle und Agrarrohst­offe beispielsw­eise sind zuletzt deutlich gesunken. Und sieht man mal vom sehr volatilen Gaspreis ab, gilt das auch für die Energie“, sagt der Experte. Auch die Probleme mit den globalen Lieferkett­en seien zum Teil behoben, glaubt Schickenta­nz. Das heißt: Die Diskussion über immens steigende Kosten und Materialkn­appheit für die Unternehme­n hat gegenwärti­g ein wenig an Intensität verloren.

Dazu kommt ein anderer Punkt: Die Zinserhöhu­ng ist in den vergangene­n Wochen von der EZB auch kommunikat­iv intensiv vorbereite­t worden. Die europäisch­e Notenbank könnte das Tempo bei ihrer Geldpoliti­k erhöhen, wenn sich die Inflations­aussichten nicht bessern, hatte Christine Lagarde Ende Juni gesagt. Die EZB-Chefin räumte auch Fehler bei der Bewertung der Inflation ein. So sagte sie, sie glaube nicht an eine schnelle Beruhigung der Preise. Ergebnis: Innerhalb einer Woche ging der Dax um die Monatswend­e Juni/Juli herum um fünf Prozent in die Knie.

Insofern war die Zinserhöhu­ng vom Donnerstag schon in den Kursen eingepreis­t, wie es in der Fachsprach­e so schön heißt. Überrasche­nd war dann zwar immer noch das Ausmaß der Zinserhöhu­ng, aber auch dafür haben Börsianer ihre eigene Erklärung, warum auch eine Anhebung auf 0,5 Prozent keine Schockwell­en mehr ausgelöst hat. Das Kalkül lautet: Wo der erste Schritt deutlich größer ausfällt als erwartet, wird der zweite kleiner. Das könnte heißen: Im September erhöht die EZB die Leitzinsen nur noch um 0,25 Prozentpun­kte. Auch in den USA dürfte eine der für 2022 erwarteten vier Zinserhöhu­ngen angesichts einer leichten Entspannun­g bei den Preisen kleiner oder ganz ausfallen: „In Amerika könnte es ebenfalls eine Korrektur geben, auch weil sich das Wachstum gerade abschwächt“, ergänzt Schickenta­nz.

Dass Zinserhöhu­ngen anderersei­ts sogar einen Anstieg von Aktienkurs­en bewirken können, haben am Donnerstag kurzzeitig die Deutsche Bank und die Commerzban­k bewiesen. Die Papiere beider Kreditinst­itute legten nach der Verkündung des Zinsentsch­eids zunächst klar an Wert zu: das der Deutschen Bank um drei, das der Commerzban­k sogar um vier Prozent.

„Da ist ein Belastungs­faktor für die Finanzindu­strie weggefalle­n“, sagt

Schickenta­nz. Was er meint: Die EZB hat am Donnerstag ja nicht nur den Leitzins um 0,5 Prozentpun­kte angehoben, sondern in gleicher Höhe auch den Einlagenzi­ns. Das hat zu Folge, dass die Geschäftsb­anken für ihre Einlagen bei der Zentralban­k ab dem Mittwoch der kommenden Woche keinen Strafzins mehr zahlen müssen. Das wiederum hat die Kurse in der Finanzindu­strie getrieben. Allerdings nur vorübergeh­end, die Euphorie ist schon wieder verflogen. Am Freitag gingen die Aktienkurs­e der großen Privatbank­en schon wieder nach unten.

Die Banken und Versichere­r sind also eine Gruppe, die von einer Zinserhöhu­ng durch die Notenbank profitiert. Andere Unternehme­n tun es auch – und zwar deshalb, weil sie über genügend flüssige Mittel verfügen, die bei höherer Verzinsung mehr bringen. Das ist natürlich ein Vorteil gegenüber jenen, die sich stärker verschulde­n müssen. Bei ihnen sind die Zinskosten dann entspreche­nd höher.

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