Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Die Zinssteigerung hat die Börse kaltgelassen
Der Deutsche Aktienindex hat trotz des Entscheids der EZB kaum verloren. Dafür gibt es mehrere Erklärungsansätze.
DÜSSELDORF Die Theorie ist ganz einfach: Wenn eine Notenbank den Leitzins erhöht, ist das in der Regel schlecht für die Aktienkurse. Erstens, weil unter anderem die Geldbeschaffung dadurch teurer wird für Unternehmen, die beispielsweise einen Kredit aufnehmen wollen (oder müssen) und dadurch Mehrkosten haben, die den Gewinn schmälern. Das drückt dann auf den Aktienkurs. Zweitens, weil nach einer Zinserhöhung festverzinsliche Geldanlagen für Investoren attraktiver werden und Aktien umgekehrt an Reiz verlieren.
Also müssten die Kurse nach einer Zinserhöhung sinken. Eigentlich. Je nach Ausmaß des Zinsschritts sogar mehr oder weniger deutlich. Doch Theorie ist Theorie – in der Praxis sieht das mitunter ganz anders aus. Am Donnerstag hat der Deutsche Aktienindex (Dax) nur 0,3 Prozent an Wert verloren, obwohl die Europäische Zentralbank (EZB) den
Leitzins erhöht hat. Mit einer Anhebung auf 0,5 Prozent hat sie das sogar in einem Ausmaß getan, das viele überrascht hat. Warum haben die Märkte – nicht nur an der deutschen Börse hat sich wenig bewegt – trotzdem so entspannt reagiert? Am Freitagmittag lagen der Dax und die meisten seiner Werte sogar leicht im Plus. Verkehrte Börsenwelt? Keineswegs.
Eine mögliche Erklärung liefert Chris-Oliver Schickentanz, künftiger Chefanlagestratege des unabhängigen Vermögensverwalters Capitell: „Die Inflationsdebatte hat wohl ihren Höhepunkt überschritten. Die Preise für Industriemetalle und Agrarrohstoffe beispielsweise sind zuletzt deutlich gesunken. Und sieht man mal vom sehr volatilen Gaspreis ab, gilt das auch für die Energie“, sagt der Experte. Auch die Probleme mit den globalen Lieferketten seien zum Teil behoben, glaubt Schickentanz. Das heißt: Die Diskussion über immens steigende Kosten und Materialknappheit für die Unternehmen hat gegenwärtig ein wenig an Intensität verloren.
Dazu kommt ein anderer Punkt: Die Zinserhöhung ist in den vergangenen Wochen von der EZB auch kommunikativ intensiv vorbereitet worden. Die europäische Notenbank könnte das Tempo bei ihrer Geldpolitik erhöhen, wenn sich die Inflationsaussichten nicht bessern, hatte Christine Lagarde Ende Juni gesagt. Die EZB-Chefin räumte auch Fehler bei der Bewertung der Inflation ein. So sagte sie, sie glaube nicht an eine schnelle Beruhigung der Preise. Ergebnis: Innerhalb einer Woche ging der Dax um die Monatswende Juni/Juli herum um fünf Prozent in die Knie.
Insofern war die Zinserhöhung vom Donnerstag schon in den Kursen eingepreist, wie es in der Fachsprache so schön heißt. Überraschend war dann zwar immer noch das Ausmaß der Zinserhöhung, aber auch dafür haben Börsianer ihre eigene Erklärung, warum auch eine Anhebung auf 0,5 Prozent keine Schockwellen mehr ausgelöst hat. Das Kalkül lautet: Wo der erste Schritt deutlich größer ausfällt als erwartet, wird der zweite kleiner. Das könnte heißen: Im September erhöht die EZB die Leitzinsen nur noch um 0,25 Prozentpunkte. Auch in den USA dürfte eine der für 2022 erwarteten vier Zinserhöhungen angesichts einer leichten Entspannung bei den Preisen kleiner oder ganz ausfallen: „In Amerika könnte es ebenfalls eine Korrektur geben, auch weil sich das Wachstum gerade abschwächt“, ergänzt Schickentanz.
Dass Zinserhöhungen andererseits sogar einen Anstieg von Aktienkursen bewirken können, haben am Donnerstag kurzzeitig die Deutsche Bank und die Commerzbank bewiesen. Die Papiere beider Kreditinstitute legten nach der Verkündung des Zinsentscheids zunächst klar an Wert zu: das der Deutschen Bank um drei, das der Commerzbank sogar um vier Prozent.
„Da ist ein Belastungsfaktor für die Finanzindustrie weggefallen“, sagt
Schickentanz. Was er meint: Die EZB hat am Donnerstag ja nicht nur den Leitzins um 0,5 Prozentpunkte angehoben, sondern in gleicher Höhe auch den Einlagenzins. Das hat zu Folge, dass die Geschäftsbanken für ihre Einlagen bei der Zentralbank ab dem Mittwoch der kommenden Woche keinen Strafzins mehr zahlen müssen. Das wiederum hat die Kurse in der Finanzindustrie getrieben. Allerdings nur vorübergehend, die Euphorie ist schon wieder verflogen. Am Freitag gingen die Aktienkurse der großen Privatbanken schon wieder nach unten.
Die Banken und Versicherer sind also eine Gruppe, die von einer Zinserhöhung durch die Notenbank profitiert. Andere Unternehmen tun es auch – und zwar deshalb, weil sie über genügend flüssige Mittel verfügen, die bei höherer Verzinsung mehr bringen. Das ist natürlich ein Vorteil gegenüber jenen, die sich stärker verschulden müssen. Bei ihnen sind die Zinskosten dann entsprechend höher.