Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Das ungleiche Artillerie-Duell
ANALYSE Die Gefechte in der Ukraine haben sich zu einem Abnutzungskrieg entwickelt – bislang zum Vorteil Moskaus. Doch die gelieferten westlichen Waffensysteme könnten für Kiew eine neue Chance bedeuten.
Videos zeigen spektakuläre Explosionen russischer Munitionsdepots im Hinterland. Bis zu 30 Ziele seien getroffen worden, angeblich auch auf russischem Gebiet. Die von westlicher Seite gelieferten „Wunderwaffen“, die dafür verantwortlich sein sollen, heißen Himars, Panzerhaubitze 2000 oder Kanone M777. Bislang war die ukrainische Artillerie qualitativ und zahlenmäßig krass unterlegen. Wegen der veralteten Systeme aus der Sowjetzeit kann die ukrainische Artillerie außerdem nur rund 18 Kilometer weit schießen, muss deshalb nah an der Front stationiert werden und ist dadurch leichter zu bekämpfen. Die modernere russische Artillerie erreicht dagegen Ziele in rund 40 Kilometer Entfernung, was auch bei westlichen Kanonen Standard ist. Sie trifft allerdings ungenau und verursacht großflächige sogenannte Kollateralschäden: Zivile Opfer und zerstörte Infrastruktur sind die vermutlich nicht immer beabsichtigten Folgen.
Seit dem Zweiten Weltkrieg verfügen die russischen Streitkräfte über ungewöhnlich viele Geschütze und Raketenwerfer; die Artillerie soll 50 Prozent des gesamten Feldheeres ausmachen. Jeder Angriff, so die erklärte Taktik, wird mit verheerendem Beschuss eingeleitet. Auch die gemischten russischen Bataillonskampfgruppen, die in der Ukraine eingesetzt werden, verfügen über einen auffällig großen Fuhrpark an Panzerhaubitzen und Raketenwerfern. Das wiederum erfordert riesige Munitionsmengen, eine umfangreiche Logistik und große Zwischenlager möglichst nah an der Front.
Waffen wie das amerikanische Himars (High Mobility Artillery Rocket System = hochmobiles Artillerieraketensystem)
stören diese Taktik empfindlich: Mit einer Reichweite von 84 Kilometern und einer Feuerkraft von sechs Flugkörpern innerhalb von 60 Sekunden kommen sie weit hinter die russischen Linien und zwingen die Angreifer, ihre stark gefährdeten Großdepots durch kleinere, versteckte Zwischenlager zu ersetzen. Auch die deutsche Panzerhaubitze 2000 ist den eingesetzten russischen Modellen technisch überlegen: Ihr Geschütz muss nicht erst mühsam in Stellung gebracht werden, sondern ist nach Übermitteln der Zieldaten binnen Sekunden feuerbereit.
Die westlichen Systeme stammen zwar allesamt noch aus der Zeit des Kalten Krieges. Die präzise Munition macht jedoch den Unterschied: Vor allem die Kämpfe in Afghanistan haben es notwendig gemacht, die Kollateralschäden minimal zu halten, weil sich die Taliban in Dörfern hinter der Zivilbevölkerung verschanzten. So setzte die kanadische Armee ab 2008 das SuperGeschoss Excalibur ein. Es traf aus 40 Kilometern
Leergewicht:
Gewicht m. Gefechtsbeladung:
Geschwindigkeit:
Reichweite Fahrzeug:
Entfernung einen Drei-MeterKreis. Ähnlich präzise sind Himars, das deutsche Vorgängermodell M270 Mars oder die Panzerhaubitze 2000.
Gerade Mars- und Himars-Angriffe stellen die russische Flugabwehr vor große Probleme: Mit drei- bis vierfacher Schallgeschwindigkeit sind die Flugkörper zu schnell, um sie abzufangen. Zudem sind sie wegen ihrer geringen Größe wahrscheinlich kaum rechtzeitig im Radar zu entdecken.
Die Waffenwirkung ist teilweise geheim. Über die Excalibur-Granate wurde berichtet, sie zerlege sich über dem Ziel je nach Programmierung in bis zu 85 raketengetriebene, einzeln steuerbare Geschosskerne. Gerüchteweise können die Himars-Raketen sogar bis zu 100 Kilometer weit fliegen.
Doch siegt am Ende in dem ungleichen Artillerie-Duell doch die Masse? Die Excalibur kostet beispielsweise 100.000 Euro pro Stück, ein einzelner Himars-Flugkörper gar mehr als 150.000 Euro. Zum Vergleich: Eine herkömmliche 155-mm-Granate kann für etwa 1300 Euro beschafft werden. Die „Financial Times“schrieb, die gesamte US-Jahresproduktion von Geschossen dieses Standardkalibers werde in der Ukraine innerhalb von 14 Tagen verbraucht. Während das russische Arsenal unerschöpflich erscheint – pro Tag werden bis zu 6000 Raketen und Granaten abgefeuert –, ist schon die Zahl der aus dem Westen gelieferten Artilleriesysteme überschaubar: Nur vier Himars sollen im Einsatz sein, zwölf sind insgesamt von Washington versprochen. Russland behauptet, bereits eines der Fahrzeuge zerstört zu haben. Deutschland und Großbritannien haben etwa je drei Raketenwerfer M270, den HimarsVorgänger, zugesagt.
Diese kleinen Stückzahlen machen indirekt auch deutlich, dass die Nato nach Ende des Kalten Krieges ihre Fähigkeit zur Bündnisverteidigung wissentlich erheblich geschwächt hat: Umfasste die Artillerietruppe der Bundeswehr in den 1980er-Jahren noch mehr als 42.000 Soldaten, 1100 Geschütze und 400 Raketenwerfer, so sind heute noch um die 5000 Mann, weniger als 180 Panzerhaubitzen und etwa 150 Mars-Werfer übrig geblieben.
Die Verluste der ukrainischen Streitkräfte sind inzwischen stark gestiegen. Sie sollen unter anderem 700 ihrer Artilleriesysteme verloren haben, die Hälfte ihres Bestandes. Eine weitere Schwachstelle ist die Flugabwehr: So fliegen die Russen verstärkt Luftangriffe. Einen nicht zu unterschätzenden Vorteil besitzen die Verteidiger jedoch: Sie können auf Aufklärungsergebnisse der Nato und Informationen ihrer Bürger in den besetzten Gebieten zurückgreifen. Damit wissen sie genau, welche Ziele durch Himars und Co. vorrangig ins Visier genommen werden sollten.
Die westlichen Systeme stammen zwar aus der Zeit des Kalten Krieges. Die Munition macht jedoch den Unterschied