Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Vorerst geschlossen
ANALYSE China verfolgt trotz Omikron eine rigide Null-Covid-Strategie. Doch Kosten und Nutzen des Ansatzes geraten immer mehr aus dem Gleichgewicht. Die Aussicht auf jahrelange Abriegelung lässt den Frust im Volk wachsen.
Es war ein Halbsatz, der vielen Chinesen die sprichwörtliche Kinnlade herunterfallen ließ. „In den nächsten fünf Jahren wird Peking die Pandemieprävention unermüdlich vorantreiben“, kündigte der oberste Parteisekretär der chinesischen Hauptstadt, Cai Qi, über die Staatszeitung „Beijing Ribao“an. Was in der blumigen Sprache des 66-jährigen Regierungsbeamten trivial klingt, heißt im Klartext: Die 1,4 Milliarden Chinesen müssen sich wohl langfristig auf die ermüdende Null-CovidNormalität aus Lockdowns, Massentests und Grenzschließungen einstellen.
Weltweit ist die Volksrepublik einer der letzten Staaten, die zum Schutz vor der Corona-Pandemie ihre Grenzen de facto geschlossen halten und selbst bei kleinsten Infektionsausbrüchen drastisch reagieren. Auch zweieinhalb Jahre nach der ersten Welle hat sich an der grundlegenden Prämisse wenig geändert: Die Ausbreitung des Virus soll nicht verlangsamt, sondern vollständig eingedämmt werden.
Doch angesichts der hohen wirtschaftlichen Kosten gingen die meisten Experten bisher davon aus, dass die Regierung nach dem wichtigen Parteikongress im Herbst eine schrittweise Lockerung ihrer Strategie anstrebt. Skeptiker hingegen befürchten seit Längerem, dass Peking viele der während der Pandemie eingeführten Maßnahmen – allen voran die digitale Überwachung und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit – auf unbestimmte Zeit beibehält.
Weitere fünf Jahre klingen jedoch auch für die in stoischer Geduld erprobten Chinesen wie eine regelrechte Hiobsbotschaft. Und siehe da: Nur wenige Stunden nach der umstrittenen Aussage von Parteisekretär Cai Qi änderten die Staatsmedien das Zitat kurzerhand und entfernten die konkrete Zeitangabe. Über die Hintergründe der Entscheidung lässt sich nur spekulieren, doch mehr als deutlich war die empörte Reaktion der Öffentlichkeit: Selten hat sich so offen gezeigt, dass die Leute der strengen Null-Covid-Strategie der Regierung müde sind.
„Es scheint, dass jeder bereits vergessen hat, dass es das Ziel der Pandemiebekämpfung ist, irgendwann zum normalen Leben zurückzukehren“, schrieb beispielsweise ein Nutzer auf der Online-Plattform Weibo. Ein anderer vermerkte, er werde nun den „Countdown“beginnen, um „aus dem Land zu fliehen“. Zahlreiche Menschen stimmten in den Chor ein, ehe die Zensoren wie üblich einschritten und kritische Kommentare löschten.
Dabei erhalten die Nutzer auch Unterstützung von offizieller Seite. Hu Xijin, bis zu seiner Pensionierung Chefredakteur bei der einflussreichen „Global Times“, schrieb etwa auf seinem persönlichen Account: „Niemand will in Peking die nächsten fünf Jahre so leben, wie es in den letzten sechs Monaten der Fall war.“
Die meisten Hauptstadtbewohner würden dem wohl inbrünstig zustimmen. Denn spätestens seit 2022 ist mit Aufkommen von Omikron die KostenNutzen-Rechnung der chinesischen Null-Covid-Politik aus der Balance geraten. Um die hochansteckende Variante einzudämmen, wurden die Maßnahmen immer drastischer, flächendeckender und häufiger. Die nahezu 26 Millionen Einwohner Shanghais wurden beispielsweise zwei Monate lang in ihre Wohnungen eingesperrt, zeitweise war ein Drittel der Chinesen von Ausgangssperren betroffen, nach wie vor gehören regelmäßige Massentests zum neuen Alltag der Metropolen.
Doch trotz allem hat es China erneut geschafft, mittlerweile sämtliche
Hu Xijin Ex-Chefredakteur der „Global Times“
Infektionsstränge im Land unter Kontrolle zu bringen. Nach monatelangen Lockdowns zählen die Behörden derzeit trotz der flächendeckenden PCRMassentests lediglich ein paar Dutzend Fälle pro Tag. Von einem „Sieg“über das Virus, wie es die offizielle Propaganda oftmals darstellt, lässt sich allerdings nicht sprechen. „Vorübergehender Waffenstillstand“trifft es eher, schließlich kann die fragile Normalität jederzeit wieder kippen. Oder, wie es ein deutscher Manager zynisch formuliert: „Nach dem Lockdown ist vor dem Lockdown.“Gerade ist in Shanghai erstmals die hochansteckende Omikron-Subvariante BA.5 entdeckt worden.
Bei der europäischen Handelskammer in Peking geht man ebenfalls davon aus, dass China „möglicherweise über den Sommer 2023 hinaus“seine Grenzen nicht vollständig öffnet. Das liege vor allem an der vergleichsweise niedrigen Impfrate der über 60-Jährigen. Tatsächlich hat sich die Impfkampagne seit Beginn des Jahres deutlich verlangsamt; derzeit wird weniger als 800.000 Menschen täglich eine Dosis verabreicht. Der Internationale Währungsfonds kritisierte zuletzt, dass die Herdenimmunität mittlerweile „eine Angelegenheit von Jahren“sei.
Und dennoch lassen sich aus Peking auch zaghafte Zeichen der Lockerung vernehmen. Jüngst gab der Staatsrat bekannt, dass die Quarantänezeiten für Einreisende aus dem Ausland auf eine Woche Hotel und drei weitere Tage Heimisolation gekürzt wurden. In den Facebook-Gruppen, in denen sich Tausende im Ausland gestrandete Chinesen organisiert haben, wurde die Nachricht mit Euphorie aufgenommen. Doch tatsächlich scheitert die Rückreise für die meisten vor allem an der Anzahl verfügbarer Flüge, die oft auf Monate ausgebucht sind. Wer derzeit etwa noch im September von Frankfurt nach Shanghai fliegen möchte, muss dafür mindestens rund 10.000 Euro einplanen – die einwöchige Quarantäne nach Ankunft nicht eingerechnet.
„Niemand will in den nächsten fünf Jahren so leben wie in den letzten sechs Monaten“