Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Hungrig, krank und ohne Wohnung
Die Not hatte in der Nachkriegszeit viele Gesichter. Erst mit der Währungsreform 1948 setzte der Aufschwung ein.
NEUSS Ausgangssperre – was in Italien und anderen Ländern in der derzeitigen Coroa-pandemie die Realität ist, herrschte vor 75 Jahren auch in Neuss. Noch am Tag der Besetzung durch amerikanische Truppen Anfang März 1945 hatte die neue Besatzungsmacht festgelegt, dass die Neusser nur zwischen 9 und 11 Uhr ihre Wohnungen verlassen durften, um sich mit lebensnotwendigen Dingen zu versorgen. Allerdings reichte diese Zeit dafür längst nicht.
Essens-mangel Das stundenlange Anstehen vor den Geschäften, an das sich die Neusser schon zu Kriegszeiten gewöhnen mussten, setzte sich auch nach dem Ende der Kampfhandlungen fort. „Und nicht selten ging man leer aus“, berichtet Hildegard Welfens in den Dokumentationen des Stadtarchivs Neuss zur unmittelbaren
„Rund ein Drittel der Wohnhäuser war nach dem Krieg nicht mehr bewohnbar“
Jens Metzdorf Stadtarchivar Nachkriegszeit. Denn durch die zerstörten Bahnanlagen, Straßen und Brücken gab es erhebliche Transportschwierigkeiten, so dass „die von der Militärregierung versprochenen Mengen an Lebensmitteln nur in den seltensten Fällen zur Verteilung kamen“. Selbst Gemüse war Mangelware, obwohl Neuss inmitten eines Gemüseanbaugebiets lag – und liegt. „Hamster-unwesen, Hehlerei und Schwarzmarktgeschäfte“, ließen sich trotz harter Bestrafung und vieler Appelle nicht verhindern. Und auch Spenden vom englischen Roten Kreuz und amerikanischen und kanadischen Mennonitenund Quäkerfamilien verbesserten die Lage nicht.
Am 2. April 1947 schließlich machten die Neusser ihrem Unmut Luft. Mehr als 10.000 Bürger demonstrierten auf dem Neusser Markt gegen den Hunger. „Wir sind am Ende unserer Kraft“, stand auf ihren Protestschildern. Der damalige Oberbürgermeister Alfons Frings reagierte mit „tiefem Verständnis“. Es sei richtig, die Welt auf die Not in Deutschland aufmerksam zu machen und um eine gerechtere Essensverteilung zu bitten, schrieb er damals. Doch erst mit der Währungsreform am 20. Juni 1948 ging es tatsächlich aufwärts. Und der Einführung der D-mark folgte 1950 schließlich die Abschaffung der Lebensmittelmarken
und das Ende der letzten Rationierungen.
Die Wohnungsnot Das zweite Problem neben dem Hunger war die Wohnungsnot. „Rund ein Drittel der Wohnhäuser war nach dem Krieg nicht mehr bewohnbar“, berichtet Jens Metzdorf, Leiter des Neusser Stadtarchivs. Zudem nahmen die Besatzer einen Teil des Wohnraums in Beschlag und nicht zuletzt verschärfte die große Zahl der Rückkehrer und Flüchtlinge die Lage. Die Militärregierung ließ darauf jeden Wohnraum erfassen. War eine Wohnung unterbelegt, weil sie mehr Räume als Bewohner
hatte, drohten dem Eigentümer Zwangsvermietung, Geld- oder Haftstrafen. Behelfsheime aus Wellblech, sogenannte Nissenhütten, und andere Notunterkünfte wurden errichtet, und so gelang es bis Juli 1945 immerhin mehr als 2000 Wohnungssuchenden ein Obdach zu geben. „Trotzdem verließ die Mehrzahl der Rückkehrer und Flüchtlinge das Wohnungsamt mit einem negativen Bescheid“, schreibt Welfens. Im Herbst 1947 musste die Stadt gar ein Zuzugsverbot verhängen, das nur für ehemalige Kriegsgefangene nicht galt. Und auch vier Jahre nach Kriegsende, lebten viele Familien noch in einem einzigen Raum oder in Notunterkünften in Kellern, Bunkern und Sälen.
Die Krankheiten Wohnungs- und Hungersnot brachten weitere Probleme: Schlechte hygienische Verhältnisse und zunehmende Infektionskrankheiten. „Läuse hatten wir alle“, wird Margot Verweyen in den Zeitzeugenberichten des Stadtarchivs zitiert. Aber auch Flöhe, Krätze und Eiterflechte waren weit verbreitet. Um einer Ausbreitung von Diphterie, Scharlach, Typhus und Pocken vorzubeugen, ließ der damalige Amtsarzt regelmäßige Schutzimpfungen durch- und mehr als 3000 Desinfektionen ausführen, heißt es in den Dokumenten des Stadtarchivs. Doch die Zunahmen von Tuberkulosefällen konnte nicht verhindert werden. „Kamen 1938 auf 10.000 Einwohner 8,8 Neuerkrankungen an Tuberkulose, so erreichte die Zahl mit 51,3 im Jahre 1946 ihren Höhepunkt“, berichtet Welfens. Zudem war der Heilungsprozess schwierig und langwierig – wegen des schlechten Allgemeinzustands der Menschen, aber auch wegen des Mangels an Medikamenten. Auch in diesem Punkt trat erst mit der Währungsreform Besserung ein. Ihr folgte mit Wirtschaftswunder und Freßwelle eine neue, breitgestreute Krankheit: Übergewicht.