Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Das Leben ist das größte Kunstwerk
Die Kunst entdeckt den Alltag: Karl Ove Knausgård und Richard Linklater feiern in Romanen und Filmen das Allzumenschliche.
DÜSSELDORF Am Anfang kämpft man gegen seinen Abwehrreflex, man fragt sich, ob man das wirklich lesen und miterleben möchte, diese Detailfülle, das Alltägliche und Banale, die Langeweile. Aber irgendwann kann man nicht mehr aufhören, man folgt dem Erzähler auf den Ausflug mit Ehefrau und drei kleinen Kindern in den Vergnügungspark, und die Kinder quengeln und haben Hunger, die Stimmung ist mies, der Park in schlechtem Zustand, und zwischen den Eltern gibt es Spannungen.
Man erlebt über Dutzende Seiten hinweg, wie Passanten auf diese Familie reagieren, wie deren Minenspiel Mitleid ausdrückt oder Spott, und man hört die Zwischentöne in der Kommunikation der Eltern, die an den Kindern vorbeigezischten Beschimpfungen der Partner untereinander, man sieht die kleinen Gesten des Genervtseins und der Überforderung, aber auch das Unverbrüchliche in der Zuneigung, die Gewissheit des Geborgenseins. Bald kann man nicht mehr aufhören zu lesen, weil das alles so wahr ist, echt und unmittelbar. Und man erkennt, dass der Text im Grunde von einem selbst handelt, man sieht in einen Spiegel: Das bin ja ich!
In sechs dicken Bänden hat der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård sein Leben aufgeschrieben; die soeben geschilderte Passage steht am Beginn des zweiten, der den Titel „Lieben“trägt, und dieses autobiografische Projekt ist eines der faszinierendsten Kunstwerke der Gegenwart. Knausgård schreibt jeden Tag zwischen 20 und 30 Seiten. Er will den Augenblick bewahren, die Gewöhnlichkeit des Lebens wertschätzen und die Existenz als dauerndes Werden akzeptieren. SoSein und So-Bleiben gibt es nicht, alles ist Transit und Veränderung. Nach Knausgård ist das Ankommen der letzte Akt; aufs Ankommen zu hoffen, wie so viele es tun, ist falsch, denn Ankommen ist der Tod, und für den, der angekommen ist, ist ohnehin alles zu spät.
„Radikale Transparenz“nennt US-Literaturwissenschaftler James Wood dieses Phänomen. Der Begriff trifft nicht nur auf Bestseller-Autor Knausgård zu. Die Verschränkung von Leben und Kunst, das Schwinden der Grenze zwischen Kunstwerk und Realität ist auch im Kino zu beobachten, im Film „Boyhood“von Richard Linklater etwa. Der Regisseur drehte über zwölf Jahre hinweg mit dem zu Beginn der Produktion erst sechs Jahre alten Jungen Ellar Coltrane. Gemeinsam mit den Schauspielern Patricia Arquette und Ethan Hawke besuchte Linklater ihn jedes Jahr für je drei, vier Tage und fertigte schließlich diesen Spielfilm, der so authentisch wie kein anderer das Erwachsenwerden dokumentiert. Man erlebt die erste Liebe mit, sieht das Herz brechen und die Mutter weinen, erlebt Scheidungen und durchwachte Nächte und lebt das Leben eines Fremden, der zum Freund wird, zum Bruder. Das Konzept von „Boyhood“ist revolutionär, denn im Kino gilt Alltag zumeist als wenig attraktiv, „Video rein, Alltag raus“lau- tet das Motto des Videotheken-Verbandes, es zählt die Sensation.
Es lassen sich Dutzende weitere Beispiele für das nennen, was Robert Pfaller in seiner Philosophie der Interpassivität „delegiertes Erleben“nennt. Sheila Hetis Roman-Experiment „Wie sollten wir sein?“gehört dazu, auch der Film „Victoria“von Sebastian Schipper, die Serie „Girls“oder die Roman-Chronik „Das alte Jahrhundert“von Peter Kurzeck. Diese Künstler stellen Individuen so ehrlich wie möglich dar. Ironie sucht man vergebens, die Erfahrungen sind intensiv, Peinlich- keit und Scham werden nicht ausgeklammert, der Realismus ist mitunter verschreckend. Knausgård ist unfähig irgendetwas auszulassen, jedes Putzmittel wird mit Markennamen vermerkt, jedes Teekochen und Windelwechseln notiert. Fremdgehen, Suff und Abneigung: Er schont weder sich noch die Familie, das ganze Leben muss aufs Papier. Er zeigt Fehler, teilt Informationen, stellt Gemeinsamkeit her: Einzigartigkeit verbindet.
„Unsere Kultur ist besessen von realen Ereignissen, weil wir kaum noch welche erleben“, schreibt David Shields in seinem Sachbuch „Reality Hunger“. Viele Erfahrungen in der digitalen Gegenwart seien mittelbar, basierten auf Hörensagen. In einem Interview monierte Knausgård jüngst, wenn wir heute über den Tod redeten, ginge es zumeist um Reflexionen über die Soziologie des Sterbens, über das Konzept des Todes, etwas Abstraktes. In dem Buch „Sterben“, dem ersten Teil seines autobiografischen Projektes, steht hingegen das Konkrete im Vordergrund, das Beispiel, der tote Körper seines Vaters.
Die vitalen biografischen RealitySoaps von Knausgård und Linklater fügen Momente zu etwas Sinnstiftendem, zum Rhythmus des Lebens. Ihr Kern ist zutiefst human, denn indem sie das Unzulängliche zum Ereignis machen, den Moment des Erzählens dem Moment des Erlebens angleichen, bieten sie Trost und Beruhigung: Menschsein fühlt sich genauso an wie bei dir und mir, sagen sie. Sie denken den Tod mit, sie nehmen den Tod als natürliche Begrenzung wahr, und deshalb versuchen sie gar nicht erst, gegen die Zeit zu kämpfen. Ihr Anliegen ist vielmehr, die Vergänglichkeit anzunehmen, das Leben mitsamt seiner flüchtigen Schönheit zu feiern.
Die Wirkung dieser Werke ist enorm, man ist bewegt, berührt, man wird sich seiner selbst bewusst. Nach 800 Seiten schlägt man den Knausgård zu, nach fast drei Stunden läuft bei „Boyhood“der Abspann über die Leinwand, und dann sitzt man da und denkt: Das Leben ist das größte Kunstwerk.
Die Grenzen zwischen Kunstwerk und Realität verschwinden. Das Ideal
ist die Wahrheit.