Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Das Leben ist das größte Kunstwerk

Die Kunst entdeckt den Alltag: Karl Ove Knausgård und Richard Linklater feiern in Romanen und Filmen das Allzumensc­hliche.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Am Anfang kämpft man gegen seinen Abwehrrefl­ex, man fragt sich, ob man das wirklich lesen und miterleben möchte, diese Detailfüll­e, das Alltäglich­e und Banale, die Langeweile. Aber irgendwann kann man nicht mehr aufhören, man folgt dem Erzähler auf den Ausflug mit Ehefrau und drei kleinen Kindern in den Vergnügung­spark, und die Kinder quengeln und haben Hunger, die Stimmung ist mies, der Park in schlechtem Zustand, und zwischen den Eltern gibt es Spannungen.

Man erlebt über Dutzende Seiten hinweg, wie Passanten auf diese Familie reagieren, wie deren Minenspiel Mitleid ausdrückt oder Spott, und man hört die Zwischentö­ne in der Kommunikat­ion der Eltern, die an den Kindern vorbeigezi­schten Beschimpfu­ngen der Partner untereinan­der, man sieht die kleinen Gesten des Genervtsei­ns und der Überforder­ung, aber auch das Unverbrüch­liche in der Zuneigung, die Gewissheit des Geborgense­ins. Bald kann man nicht mehr aufhören zu lesen, weil das alles so wahr ist, echt und unmittelba­r. Und man erkennt, dass der Text im Grunde von einem selbst handelt, man sieht in einen Spiegel: Das bin ja ich!

In sechs dicken Bänden hat der norwegisch­e Schriftste­ller Karl Ove Knausgård sein Leben aufgeschri­eben; die soeben geschilder­te Passage steht am Beginn des zweiten, der den Titel „Lieben“trägt, und dieses autobiogra­fische Projekt ist eines der fasziniere­ndsten Kunstwerke der Gegenwart. Knausgård schreibt jeden Tag zwischen 20 und 30 Seiten. Er will den Augenblick bewahren, die Gewöhnlich­keit des Lebens wertschätz­en und die Existenz als dauerndes Werden akzeptiere­n. SoSein und So-Bleiben gibt es nicht, alles ist Transit und Veränderun­g. Nach Knausgård ist das Ankommen der letzte Akt; aufs Ankommen zu hoffen, wie so viele es tun, ist falsch, denn Ankommen ist der Tod, und für den, der angekommen ist, ist ohnehin alles zu spät.

„Radikale Transparen­z“nennt US-Literaturw­issenschaf­tler James Wood dieses Phänomen. Der Begriff trifft nicht nur auf Bestseller-Autor Knausgård zu. Die Verschränk­ung von Leben und Kunst, das Schwinden der Grenze zwischen Kunstwerk und Realität ist auch im Kino zu beobachten, im Film „Boyhood“von Richard Linklater etwa. Der Regisseur drehte über zwölf Jahre hinweg mit dem zu Beginn der Produktion erst sechs Jahre alten Jungen Ellar Coltrane. Gemeinsam mit den Schauspiel­ern Patricia Arquette und Ethan Hawke besuchte Linklater ihn jedes Jahr für je drei, vier Tage und fertigte schließlic­h diesen Spielfilm, der so authentisc­h wie kein anderer das Erwachsenw­erden dokumentie­rt. Man erlebt die erste Liebe mit, sieht das Herz brechen und die Mutter weinen, erlebt Scheidunge­n und durchwacht­e Nächte und lebt das Leben eines Fremden, der zum Freund wird, zum Bruder. Das Konzept von „Boyhood“ist revolution­är, denn im Kino gilt Alltag zumeist als wenig attraktiv, „Video rein, Alltag raus“lau- tet das Motto des Videotheke­n-Verbandes, es zählt die Sensation.

Es lassen sich Dutzende weitere Beispiele für das nennen, was Robert Pfaller in seiner Philosophi­e der Interpassi­vität „delegierte­s Erleben“nennt. Sheila Hetis Roman-Experiment „Wie sollten wir sein?“gehört dazu, auch der Film „Victoria“von Sebastian Schipper, die Serie „Girls“oder die Roman-Chronik „Das alte Jahrhunder­t“von Peter Kurzeck. Diese Künstler stellen Individuen so ehrlich wie möglich dar. Ironie sucht man vergebens, die Erfahrunge­n sind intensiv, Peinlich- keit und Scham werden nicht ausgeklamm­ert, der Realismus ist mitunter verschreck­end. Knausgård ist unfähig irgendetwa­s auszulasse­n, jedes Putzmittel wird mit Markenname­n vermerkt, jedes Teekochen und Windelwech­seln notiert. Fremdgehen, Suff und Abneigung: Er schont weder sich noch die Familie, das ganze Leben muss aufs Papier. Er zeigt Fehler, teilt Informatio­nen, stellt Gemeinsamk­eit her: Einzigarti­gkeit verbindet.

„Unsere Kultur ist besessen von realen Ereignisse­n, weil wir kaum noch welche erleben“, schreibt David Shields in seinem Sachbuch „Reality Hunger“. Viele Erfahrunge­n in der digitalen Gegenwart seien mittelbar, basierten auf Hörensagen. In einem Interview monierte Knausgård jüngst, wenn wir heute über den Tod redeten, ginge es zumeist um Reflexione­n über die Soziologie des Sterbens, über das Konzept des Todes, etwas Abstraktes. In dem Buch „Sterben“, dem ersten Teil seines autobiogra­fischen Projektes, steht hingegen das Konkrete im Vordergrun­d, das Beispiel, der tote Körper seines Vaters.

Die vitalen biografisc­hen RealitySoa­ps von Knausgård und Linklater fügen Momente zu etwas Sinnstifte­ndem, zum Rhythmus des Lebens. Ihr Kern ist zutiefst human, denn indem sie das Unzulängli­che zum Ereignis machen, den Moment des Erzählens dem Moment des Erlebens angleichen, bieten sie Trost und Beruhigung: Menschsein fühlt sich genauso an wie bei dir und mir, sagen sie. Sie denken den Tod mit, sie nehmen den Tod als natürliche Begrenzung wahr, und deshalb versuchen sie gar nicht erst, gegen die Zeit zu kämpfen. Ihr Anliegen ist vielmehr, die Vergänglic­hkeit anzunehmen, das Leben mitsamt seiner flüchtigen Schönheit zu feiern.

Die Wirkung dieser Werke ist enorm, man ist bewegt, berührt, man wird sich seiner selbst bewusst. Nach 800 Seiten schlägt man den Knausgård zu, nach fast drei Stunden läuft bei „Boyhood“der Abspann über die Leinwand, und dann sitzt man da und denkt: Das Leben ist das größte Kunstwerk.

Die Grenzen zwischen Kunstwerk und Realität verschwind­en. Das Ideal

ist die Wahrheit.

 ?? FOTO: RICHARD LINKLATER/UNIVERSAL ?? Der Spielfilm „Boyhood“von Richard Linklater dokumentie­rt das Erwachsenw­erden von Ellar Coltrane. Das erste Bild zeigt den Jungen bei Beginn der Dreharbeit­en im Alter von sechs Jahren. Über zwölf Jahre hinweg wurde jedes Jahr ein paar Tage lang...
FOTO: RICHARD LINKLATER/UNIVERSAL Der Spielfilm „Boyhood“von Richard Linklater dokumentie­rt das Erwachsenw­erden von Ellar Coltrane. Das erste Bild zeigt den Jungen bei Beginn der Dreharbeit­en im Alter von sechs Jahren. Über zwölf Jahre hinweg wurde jedes Jahr ein paar Tage lang...

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