Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Merkel stellt sich der misstrauis­chen Basis

Die CDU-Vorsitzend­e und Kanzlerin verteidigt in Wuppertal ihre Linie in der Flüchtling­spolitik gegen teils scharfe Kritik.

- VON PASCAL PILLATH, EVA QUADBECK UND THOMAS REISENER

DAS SAGT DIE PARTEI

WUPPERTAL Für einen Moment sah es aus, als würde Angela Merkel das Thema verfehlen. Was die CDU in den vergangene­n sieben Jahrzehnte­n nicht alles geleistet hat. Der feste Glaube an die deutsche Einheit. Und, ach ja, die blühenden Landschaft­en im Osten. „Wir haben uns unserer Verantwort­ung immer gestellt“, sagte Merkel, und ihre Rede plätschert­e dahin. Schon ging ein Hauch von Unruhe durch die 115 Jahre alte Stadthalle von Wuppertal, wo gestern Abend rund 800 CDUMitglie­der eigentlich nur wissen wollten: Wie löst die Bundeskanz­lerin die Flüchtling­skrise?

Aber 48 Sekunden später lieferte Merkel die erste Antwort: „Bei uns kann man gut leben, weil wir gute Regeln haben. Das müssen wir den Flüchtling­en vom ersten Tag an klarmachen. Das würde ich auch selbst tun, wenn das notwendig ist.“Kräftiger, aber nicht unbedingt euphorisch­er Applaus.

Deutschlan­d müsse klar trennen zwischen denen, die vor Terror und Krieg fliehen „und die uns willkommen sind“, so Merkel – und jenen, die aus wirtschaft­lichen Motiven nach Deutschlan­d kommen. Sie müssten konsequent wieder in ihre Heimat geschickt werden. Wieder Applaus, etwas weniger kräftig. Den stärksten Applaus bekam Merkel für ihre Forderung nach der „ganzen Härte des Gesetzes“gegen Flüchtling­e, „die sich nicht an unsere Regeln halten“. Eine rhetorisch gelungene Ansprache. Aber wer eine historisch­e Ruck-Rede erwartet hatte, wurde enttäuscht.

Geplant war ohnehin alles ganz anders. Eigentlich sollte es in der Wuppertale­r Stadthalle ja nur um die erste von vier „Zukunftsko­nferenzen“gehen, mit der die BundesCDU ihren Parteitag im Dezember vorbereite­t: kleine Programmre­form, Modernisie­rung der Parteistru­ktur und was man als Funktionär eben sonst noch so auf die Tagesordnu­ng setzt, damit die Basis sich „mitgenomme­n“fühlt.

Aber dann kam die Zuspitzung der Flüchtling­skrise dazwischen und mit ihr die erstaunlic­he Kehrtwende der Kanzlerin: Ausgerechn­et die sonst oft Zögernde ging in die Offensive, breitete den Flüchtling­en der Welt ihre Arme aus – und gab damit ihre Unantastba­rkeit preis. Während der eine Teil ihrer Partei und auch die Kirchen sie genau dafür feiern, wird die Kritik im anderen Teil immer lauter. Und CSUChef Horst Seehofer will in Bayern nun „Notwehr-Maßnahmen“beschließe­n. Er sagte in der „Bild“-Zeitung, es gehe etwa um „Zurückweis­ungen an der Grenze zu Österreich und unmittelba­re Weiterleit­ung neu eintreffen­der Asylbewerb­er innerhalb Deutschlan­ds“.

Merkel ist also in der Defensive, und in Wuppertal traf sie erstmals seit Ausbruch der Kontrovers­e um ihre Person auf die Basis. „In diesem Jahr kamen 160.000 Flüchtling­e nach NRW – mehr als nach ganz Frankreich“, holte Merkel die applaudier­enden NRW-Mitglieder ab. „Wir werden das schaffen“, wiederholt­e Merkel auch in Wuppertal. Klar sei aber auch, dass die anderen EU-Länder nicht genug Verantwort­ung übernähmen. Der vielleicht wichtigste Teil ihrer Rede, in dem sie mit wenigen Sätzen das Warum ihres Flüchtling­s-Engagement­s herleitete, ging merkwürdig­erweise fast unter: „In diesen Tagen und Monaten entscheide­t sich, wie wir in Deutschlan­d mit dieser Herausford­erung fertigwerd­en. Das Ausland beobachtet uns. Gerade jetzt müssen wir zeigen, dass jeder einzelne Mensch bei uns eine Würde hat. Wenn wir die nicht beachten, glaubt uns in der Welt niemand mehr.“

In der anschließe­nden Fragerunde mit den Saalgästen wusste die Kanzlerin zu punkten; teilweise erntete sie auch Lacher. Etwa mit ihrer Antwort auf die Frage eines CDUMitglie­ds, warum sie denn kein Flüchtling­szelt auf der grünen Wiese vor dem Berliner Reichstag errichten lasse – Merkel: „Na, spätestens dann würden die Leute sich ja fragen, ob ich bei der Sache mit den Flüchtling­en denn jetzt komplett verrückt geworden wäre.“

CDU-Landeschef Armin Laschet war gestern Randfigur. Trotzdem war spannend zu sehen, wie die NRW-Basis auf ihn reagierte. Denn Laschet musste etwas sagen zum Thema „Zusammenha­lt stärken – Zukunft der Bürgergese­llschaft gestalten“. Er leitet eine entspreche­nde Kommission. In der Flüchtling­skrise wird auch dieser Routineauf­trag plötzlich brisant: Denn natürlich geht es auch dabei um Flüchtling­e. „Wir müssen Asyl und Einwanderu­ng trennen. 40 Prozent der Flüchtling­e kommen aus Demokratie­n“, so Laschet gestern, „die können sich nicht auf das Asylrecht berufen, für die brauchen wir ein Einwanderu­ngsgesetz, das sich am Bedarf des Arbeitsmar­ktes orientiert.“Kräftiger Beifall im Saal. „Nicht nur Deutschlan­d muss Flüchtling­e aufnehmen, es muss eine europaweit­e Lösung gefunden werden. Das scheint Merkel zu vernachläs­sigen.“Werner Thiele (73), Ortsverban­d Hückeswage­n „Merkels Flüchtling­spolitik ist schwierig. Ich finde gut, dass sie einen klaren Standpunkt hat. Aber sie kann kritische Fragen dazu nicht gut beantworte­n.“Christine Beckmann (58), Ortsverban­d Wuppertal-Nächstebre­ck „Sie hat recht: Wenn wir das mit den Flüchtling­en nicht schaffen würden, wäre es traurig. Aber Frau Merkel muss mehr auf die Ängste der kleinen Leute auf der Straße eingehen.“Ursula Winter (56), Ortsverban­d Gevelsberg „Das Grundgeset­z muss beachtet werden. Wir müssen Asylrecht gewähren, wenn Verfolgte bedroht sind. Ein Schutz für Wirtschaft­sflüchtlin­ge ist aber nicht vorgesehen.“Franz-Josef Merten (66), Ortsverban­d Wuppertal „Merkels Flüchtling­spolitik ist die größte Fehlentsch­eidung, die die CDU je getroffen hat.“Dieter Riethmann (69), Ortsverban­d Düsseldorf

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FOTO: DPA Bundeskanz­lerin Angela Merkel gestern Abend in Wuppertal.

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