Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ist Griechenla­nd ein Fass ohne Boden?

Sechs Jahre Krise und schlechte Erfahrunge­n haben Vorurteile über die Rettungspa­kete für Hellas genährt. Welche sind berechtigt?

- VON JAN DREBES UND BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Was viele Koalitions­politiker noch vor einigen Wochen als undenkbar beschriebe­n hatten, ist jetzt Realität geworden: Der Bundestag hat gestern mit breiter Mehrheit einem dritten Hilfspaket für Griechenla­nd zugestimmt. Athen soll in den kommenden drei Jahren nochmals bis zu 86 Milliarden Euro an Hilfskredi­ten erhalten, um der drohenden Staatsplei­te zu entgehen. Der mit Abstand größte Anteil davon – 54 Milliarden Euro – wird eingesetzt, damit Griechenla­nd alte Schulden bei seinen Euro-Partnern ablösen kann. Ein Schuldenka­russell, das ein verbreitet­es Vorurteil nährt: Athen sei ein Schulden-Fass ohne Boden. Aber stimmt das auch? Versuch eines Fakten-Checks zu dieser und zu anderen landläufig­en Meinungen. Griechenla­nd, ein Fass ohne Boden Angesichts der 325 Milliarden Euro Schulden, die Griechenla­nd seit Beginn der Krise 2009 angehäuft hat, liegt diese Annahme nahe. Doch bisher hat Athen fällige Zahlungste­rmine bei öffentlich­en Gläubigern bis auf einen einzigen gegenüber dem Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF) Ende Juni stets eingehalte­n. Das musste es auch. Andernfall­s wäre ein ungeordnet­er Euro-Abschied nur noch schwer aufzuhalte­n gewesen.

Ein Fass ohne Boden wäre Griechenla­nd tatsächlic­h erst dann, wenn es niemals wieder an die Kapitalmär­kte zurückkehr­en könnte. Das ist jedoch sehr unwahrsche­inlich. Dreh- und Angelpunkt für die Rückkehr des Vertrauens der Investoren ist die Rückkehr des Wirtschaft­swachstums. Wenn Griechenla­nd nach erfolgreic­hen Reformen wieder eine Wachstumsp­erspektive hat, wird es sich von den Investoren wieder Geld leihen und damit die Hilfskredi­te bei den EuroLänder­n ablösen können.

Mrd. € Deutschlan­d hat schon viele Milliarden verloren Nein. Deutschlan­d hat bisher noch kein Geld in Griechenla­nd verloren. Im Gegenteil: Zinszahlun­gen auf ausgereich­te Hilfskredi­te brachten dem deutschen Staat bereits dreistelli­ge Millionene­innahmen. Allerdings gehen deutsche Steuerzahl­er gegenüber Griechenla­nd mit jedem neuen Hilfspaket ein immer höheres Haftungsri­siko ein. Sie haften für ein knappes Drittel aller Hilfskredi­te, insgesamt schätzungs­weise 100 Milliarden Euro. Ginge Griechenla­nd bankrott, wäre ein großer Teil davon verloren. Selbst dann Veränderun­g gegenüber dem Vorjahr Hilfsprogr­amme finanziert durch Eurozone, Euro-Rettungsfo­nds (EFSF und ESM) sowie Internatio­nalen Währungsfo­nds seit 2010 in Mrd. Euro würde Berlin auf einer internatio­nalen Schuldenko­nferenz aber noch einen Teil zurückford­ern können. Dass es keinen Schuldensc­hnitt geben wird, ist eine Lüge Ein echter Schuldensc­hnitt würde bedeuten, dass die Geldgeber Griechenla­nd einen Teil seiner Schulden einfach erlassen. Das schließen Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble (beide CDU) aus. Damit ist aber nicht gesagt, dass es im Herbst nicht zum Schuldener­lass kommt. Merkel hat Schuldener­leichterun­gen bereits zugesagt. Der IWF hatte das zur Bedingung für seine weitere Beteiligun­g gemacht. Am wahrschein­lichsten ist, dass die Europäer die Rückzahlun­g der Schulden einfach um weitere 20, 40 oder sogar 50 Jahre hinausschi­eben. Das würde bedeuten, dass Athen mit der Tilgung der Kredite ungefähr Mitte des Jahrhunder­ts beginnen würde. Der Grexit wäre besser gewesen Das darf bezweifelt werden, zumindest, was einen kurzfristi­gen EuroAbschi­ed anginge. Griechenla­nd bliebe ja mit all seinen Problemen Teil Europas. Im Land würde sich die humanitäre Krise verschärfe­n, Ge- walt, Chaos und Bürgerkrie­g könnten ausbrechen. Sollte Athen nachhaltig gegen neue Reformvere­inbarungen verstoßen, wäre ein geordneter Euro-Abschied doch geboten. Die Euro-Zone ist längst eine Transferun­ion Noch nicht, denn reiche Länder wie Deutschlan­d überweisen nicht systematis­ch Geld in ärmere Euro-Länder. Es gibt aber politische Kräfte in diesen Ländern, die genau dieses Ziel verfolgen. Berlin muss mit einer Reform der Europäisch­en Währungsun­ion, die ihre Konstrukti­onsfehler beseitigt, gegensteue­rn. Tsipras wird eh keine Reformen umsetzen Ministerpr­äsident Alexis Tsipras, Chef des linksradik­alen Bündnisses Syriza, hat seit Januar viel Vertrauen zerstört. Mittlerwei­le hat er seinen Finanzmini­ster ausgetausc­ht. Der Ideologe Giannis Varoufakis musste dem Technokrat­en Euklid Tsakalotos weichen. Seit Griechenla­nd auf dem Euro-Gipfel in einen Abgrund geschaut hat, zeigte es sich überrasche­nd kooperativ. Man darf gespannt sein, ob Tsipras jetzt in der Lage ist, Reformen umzusetzen. Die Griechen gehen alle früher in Rente als wir Das Gerücht, dass Griechen im Schnitt mit 56 Jahren in Rente gehen, die Deutschen aber erst mit 64, ist falsch. Die Zahl 56, die aus Statistike­n der griechisch­en Regierung stammt, bezieht sich nur auf Beschäftig­te im öffentlich­en Dienst. Nach Zahlen der Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g liegt hingegen für beide Staaten das tatsächlic­he Rentenalte­r bei etwas mehr als 61 Jahren über alle Berufsgrup­pen hinweg.

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