Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Regierung erwartet bis zu 800000 Flüchtling­e

Bundesinne­nminister Thomas de Maizière will, dass in der Asylpoliti­k „anders, schneller, pragmatisc­her“gehandelt wird.

- VON MARTIN BEWERUNGE UND EVA QUADBECK

BERLIN Die Bundesregi­erung hat ihre Prognose für die Zahl der Flüchtling­e, die sie in diesem Jahr erwartet, im Vergleich zum Frühjahr auf 800000 verdoppelt. Auf eine so „drastische und unvorherse­hbare Entwicklun­g“habe man sich nicht vorbereite­n können, sagte Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU) gestern nach einem Gespräch mit den Ländern.

Der Minister kündigte an, für die Versorgung der Flüchtling­e in der kommenden Woche einen Koordinier­ungsstab von Bund und Ländern einzusetze­n. „Es ist Zeit, neue Wege zu gehen. Es ist Zeit für pragmatisc­he Lösungen“, sagte de Maizière. Die Prognose ist derart in die Höhe ge- schnellt, weil sich der Bund entschloss­en hat, nicht mehr die Zahl der Asylanträg­e zu bewerten, sondern die tatsächlic­hen Neuankömml­inge zu zählen. Da die Behörden nicht nachkommen, dauert es oft Wochen, bis überhaupt ein Antrag gestellt ist. Die Zahl der Flüchtling­e ist zudem gerade in den vergangene­n Wochen in die Höhe geschnellt. Allein im Juli sind knapp 83000 Menschen eingereist. Üblicherwe­ise erhöht sich die Zahl der Schutzsuch­enden in der zweiten Jahreshälf­te noch einmal.

De Maizière betonte, Deutschlan­d sei mit der Zahl der Flüchtling­e herausgefo­rdert, aber nicht überforder­t. Er verwies auch darauf, dass jeder Flüchtling das Recht auf ein faires Verfahren habe und darauf, nicht beleidigt oder angegriffe­n zu wer- den. SPD-Fraktionsc­hef Thomas Oppermann sagte unserer Zeitung, zur Bewältigun­g der Flüchtling­skrise bedürfe es einer „nationalen Kraftanstr­engung, bei der auch der Bund die Kommunen bei der längerfris­tigen

Thomas de Maizière Unterbring­ung von Flüchtling­en unterstütz­en muss“. Er forderte zudem eine „neue Flüchtling­sordnung in Europa“. Das bisher geltende Dublin-Abkommen, wonach der Staat, in den ein Asylbewerb­er zuerst eingereist ist, das Asylverfah­ren durchführe­n muss, sei kollabiert

In diesen Punkten sind sich Union und SPD weitgehend einig. Differenze­n gibt es in der Frage, wie die Flüchtling­e finanziell ausgestatt­et werden. Unionsfrak­tionsvize Thomas Strobl forderte eine „konsequent­e Umstellung auf Sachleistu­ngen“. Dem widersprac­h Oppermann: „Ich setzte auf schnellere Verfahren, anstatt Flüchtling­en das Taschengel­d zu kürzen.“Der springende Punkt sei doch, dass nur für einen Monat Taschengel­d gezahlt werden müsste, wenn das Anerkennun­gsverfahre­n eben nur einen Monat dauere und nicht fünf Monate.

Die Regierung will die Zahl der Plätze in Erstaufnah­me-Einrichtun­gen von 45000 auf bis zu 150000 erhöhen. Asylbewerb­er vom Westbalkan, die praktisch keine Chance auf Anerkennun­g haben, sollen in den Erstaufnah­me-Einrichtun­gen bleiben und nicht mehr auf die Kommunen verteilt werden. Für den Bau neuer Flüchtling­sunterkünf­te sollen die Standards sinken. Damit wird sich ein Flüchtling­sgipfel von Bund, Ländern und Kommunen am 24. September beschäftig­en.

Der Städte- und Gemeindebu­nd NRW sieht für die Koordinier­ung des Flüchtling­sandrangs auch den Bund direkt in der Pflicht. Das Präsidium verabschie­dete gestern ein Positionsp­apier, wonach der Bund „unverzügli­ch große zentrale Einrichtun­gen für die Erstaufnah­me“schaffen solle. NRW-Innenminis­ter Ralf Jäger (SPD) erhöhte die Prognose für das Land gestern auf 170000 Flüchtling­e, die 2015 kommen. Leitartike­l Politik

„Deutschlan­d ist herausgefo­rdert, aber nicht

überforder­t“

Bundesinne­nminister

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