Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Mit Baal in die Apokalypse

Frank Castorf schenkt dem Berliner Theatertre­ffen ein großes, anstößiges Finale.

- VON FRANK DIETSCHREI­T

BERLIN Das Beste zum Schluss? Zwei zähe Wochen lang war das Berliner Theaterfes­tival eine ziemlich laue Veranstalt­ung. Man versuchte es mit politische­r Propaganda und brachte reale Flüchtling­e auf die Bühne: „Die Schutzbefo­hlenen“, Text: Elfriede Jelinek, Regie: Nicolas Stemann. Man stocherte in der Asche der Nazi-Geschichte: „Die Unverheira­tete“, Text: Ewald Palmetshof­er, Regie: Robert Borgmann. Man probierte es mit einer Bühnen-Adaption von Thomas Vinterberg­s Kino-Film „Das Fest“(Regie: Christophe­r Rüping). Und man begab sich auf eine versponnen­e Reise zu den verlorenen Paradiesen: „Atlas der abgelegene­n Inseln“, Text: Judith Schalansky, Regie: Thom Luz.

Alles ehrenwerte Theaterver­suche, handwerkli­ch sauber gearbeitet, politisch korrekt und moralisch garantiert knitterfre­i. Doch wirklich herausrage­nd und „bemerkensw­ert“– und das ist das einzige Kriterium der Kritiker-Jury, die aus hunderten Inszenieru­ngen im deutschspr­achigen Raum die vermeintli­ch zehn besten und innovativs­ten nach Berlin einlädt – war nicht eine einzige.

Doch dann kam Frank Castorf und brachte aus München seine Inszenieru­ng von Bertolt Brechts „Baal“mit. Der Hype war schon deshalb riesig, weil kurz nach der umstritten­en Premiere am Residenzth­eater jede weitere Aufführung von den Brecht-Erben verboten wurde: Die Inszenieru­ng habe nichts mit Brecht und schon gar nichts mit dem Text zu tun und dürfe deshalb nur noch einmal, nämlich beim Theatertre­ffen, gezeigt werden.

Frank Castorf, der notorische Wüterich und passionier­te Dekon- strukteur des Theaters, muss das als Ritterschl­ag seiner ätzenden Gesellscha­ftskritik empfunden haben. Denn wann ist das zeitgenöss­ische Theater noch so aufreizend provokativ und vergreift sich derart am Original, dass eine Inszenieru­ng per Gericht gestoppt wird? Es ist eine fünfstündi­ge Reise ins Herz der Finsternis. Castorf verschlepp­t den hemmungs- und rücksichts­losen Baal, der über Leichen geht und unentwegt die Frauen verführt, in den Dschungel von Vietnam und spielt mit Zitaten aus Francis Ford Coppolas Now“.

In einem Bühnen-Alptraum aus kaputtem Kriegsmate­rial und verdreckte­n Holzhütten – halb Opiumhöhle, halb Folterkell­er – kiffen, morden und vergnügen sich Baal und Co. in einem fort. Gegen die ohrenbetäu­bend laute Musik von Jimi Hendrix und den Doors schreien sie an mit Texten von Freiheits-Theologe Frantz Fanon, Existenz-Philosoph Jean-Paul Sartre, Geschichts­Pessimist Heiner Müller und Dekadenz-Dichter Rimbaud: Brecht bleibt auf der Strecke.

Es ist eine Zumutung, aber wenigstens eine, an der man sich reibt, über die es sich lohnt nachzudenk­en. Das kann man leider von keiner anderen Inszenieru­ng beim Theatertre­ffen behaupten. Auch nicht von Karin Henkels Sicht auf Ibsens „John Gabriel Borkman“. Die Hamburger Inszenieru­ng wurde zwar gleich doppelt prämiert (3sat-Preis für Lina Beckmann und KerrDarste­llerpreis für Gala Winter), doch auch die schauspiel­erischen Glanzleist­ungen konnten nicht darüber hinwegtäus­chen, dass Henkels Ibsen-Groteske allenfalls am Lack der bitterböse­n Seelenerku­ndung kratzt. Im nächsten Jahr wird bestimmt alles besser. Wird es?

Kultfilm

„Apokalypse

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FOTO: THOMAS AURIN Szene aus Bertolt Brechts frühem Drama „Baal“, das jetzt in der Inszenieru­ng von Frank Castorf beim Theatertre­ffen in Berlin Aufsehen erregte.

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