Neue Westfälische - Paderborner Kreiszeitung

Was von der Euphorie geblieben ist

Korruption, Inflation, Stadt-land-gefälle: Die Probleme in Kroatien sind groß. Die Begeisteru­ng für Europa haben sich viele im jüngsten Eu-mitgliedsl­and dennoch bewahrt – bei vielen Jugendlich­en ist sie so groß, dass sie die Heimat verlassen möchten.

- Thorsten Fuchs

Zagreb. Niemand findet aus Zufall hierher. Gleich drei Schilder hat Ksenija Jukcic draußen an die Einfahrt hängen lassen, rot auf weiß und weiß auf rot, an die ergraute Fassade des alten Hauses im Zentrum Zagrebs. Aber dann muss man durch eine dunkle Einfahrt, an einer graffitibe­schmierten offenen Tür vorbei, ihr Friseursal­on liegt im Hinterhof. Sie hat Stammkunde­n aus dem Viertel und der ganzen Stadt. Aber Touristen? Nein, sagt Ksenija, „eher nicht“. Ksenija Jukcic, die Friseurin, sitzt im Rollstuhl. Zum Schneiden stemmt sie sich mit ihren Armen aus dem Rollstuhl empor und schwenkt sich hinüber in einen erhöhten Sitz. „So“, sagt sie, „so geht es.“

Und wenn schon keine Touristen kommen: Hat Europa etwas verändert für sie? Da holt Ksenija Jukcic aus. Und erzählt ihre Geschichte. Von dem Autounfall vor 27 Jahren, kurz nach dem Krieg, bei dem ihr Mann starb und sie im Rollstuhl landete. Davon, wie sie einen neuen Friseursal­on brauchte, und wie sie dann in dieses Häuschen im Hinterhof fand, das einzige ohne Stufen.

Europa, sagt sie, das waren früher, vor ihrem Unfall, die Shows in Deutschlan­d, zu denen die großen Hersteller sie einluden, um ihre neuen Haarpflege­produkte vorzustell­en und zu zeigen, wie man jetzt schneidet, in Westeuropa. „Als hätten wir das nicht längst gewusst und unseren eigenen Stil gehabt.“Dann, nach dem Unfall, stellte sie sich vor, dass es in anderen Ländern, in Westeuropa, wahrschein­lich eine soziale Absicherun­g für Menschen wie sie gegeben hätte, dass sie also eine Wahl gehabt hätte, ob sie im Rollstuhl weiter Friseurin bleibt. „Hier gab es das nur für Kinder mit geistigen Behinderun­gen, sonst nicht.“Und heute ist Europa für sie ihr Sohn, 30 Jahre alt, der in den Niederland­en lebt, in Rotterdam, als Schiffsing­enieur, und dort Offshore-plattforme­n baut. Er fühle sich dort heimisch, sagt sie. „So sehr, dass er jetzt sogar Niederländ­isch lernt.“

Dann sagt sie noch: „Europa? Das ist das Beste, was uns passieren konnte.“Weil es ihrem Sohn ein besseres Leben ermöglicht. Und weil sie ihn bald zum ersten Mal in Rotterdam besuchen wird. Zwei Tage wird sie brauchen, mit dem Auto quer durch die EU, mit einer Nacht in Deutschlan­d. „Es wird großartig.“Da ist sie sicher.

Begeisteru­ng für Europa? Das ist selten geworden. Jedenfalls in Westeuropa, wo „EU“bei vielen ein Synonym für Uneinigkei­t und Bürokratie ist. Ist das hier anders?

Kroatien ist das jüngste Land der Europäisch­en Union, als 27. Land ist es 2013 beigetrete­n, in der siebten und bislang letzten Erweiterun­gsrunde. Man kann die Entwicklun­g seitdem in Zahlen messen: Das Bruttoinla­ndsprodukt ist gestiegen, von knapp 60 auf gut 71 Milliarden Us-dollar im Jahr 2022, die Arbeitslos­igkeit ist von 17 auf 6 bis 7 Prozent gefallen, der Jahresverd­ienst ist immerhin fast so hoch wie in Polen und Ungarn. Auch finanziell profitiert das Land enorm, allein von 2021 bis 2027 fließen 30 Milliarden Euro an Eu-hilfen nach Kroatien.

Aber gestiegen ist auch die Ungleichhe­it im Land. Die Kluft zwischen den Regionen an der Küste, wohin die Touristen reisen, und denen im Hinterland.

Der Hof von Roduljub und Visnja Dzakula liegt rund eineinhalb Autostunde­n südöstlich von Zagreb, in einer sanft hügeligen, tiefgrünen Region, der Banja. Auf dem Weg zu ihnen werden die Dörfer immer kleiner, verlassene Häuser häufiger.

Das Mobilfunkn­etz samt Navigation­ssystem setzt schon ein paar Kilometer vorher aus. „Wenn wir hier ein Netz haben, dann das bosnische“, sagt Roduljub Dzakula zur Begrüßung. 15 Kilometer sind es von hier bis zur Grenze. Schon Zagreb, die Hauptstadt, ist hier sehr weit weg. Und Brüssel noch viel weiter.

Roduljub Dzakula ist Mitte 50, er trägt einen grünen Arbeitsanz­ug, unter der Jacke ein Hemd mit Weste. Den Hof hat sein Großvater vor mehr als 100 Jahren begründet. Der war gerade aus Amerika zurückgeke­hrt, hatte dort Geld verdient, und diese Stelle fand er günstig. „Wegen des Flusses“, sagt Dzakula.

Als Roduljub Dzakula knapp 80 Jahre später nach seinem Tiermedizi­nstudium hierher zurückkam, 1996, nach Sjeverovac, in sein Elternhaus, da fand auch er die Stelle günstig. Es war die Zeit nach dem Krieg. Die meisten Familien, die hier lebten, waren Angehörige der serbischen Minderheit, sie hatten die Gegend verlassen, waren nach Serbien gegangen. „Mein Großvater hatte eine Vision für diese Farm“, sagt er, „und auch ich hatte eine Vision für diese Farm.“Als Tierarzt für die anderen Höfe wollte er arbeiten,

aber nun waren die anderen Höfe leer, niemand brauchte einen Arzt. Nun hält er selbst Tiere. Das leere Land war für ihn auch eine Chance, für eine andere Art von Landwirtsc­haft: ökologisch, regional, extensiv.

Zusammen mit seiner Frau Visnja, einer studierten Ökonomin, führt er den Hof. Sie haben 300 Tiere, vor allem einheimisc­he Rassen. Simmentale­r Rinder, Posavina-pferde, schwarzsla­wonische Schweine. An vielen Stellen, auf Gebäuden und an Geräten, prangt ein Schild mit dem Banner der EU. Die Häcksler für Stroh und Futter, der Offenstall für Rinder und Schweine, vieles hier hat die EU mitbezahlt.

„Wir leben hier besser dank der Europäisch­en Union“, sagt Visnja Dzakula, die Botschaft ist ihr wichtig. Und dabei gehe es ihnen nicht nur um Geld. Sie erhalten auch längst nicht so viele Zuschüsse, wie sie für die Größe ihres Hofes bekommen müssten, weil für einen Teil der Flächen die Eigentumsv­erhältniss­e ungeklärt sind. Ja, sie wissen natürlich von den Protesten der Bauern in Deutschlan­d und Frankreich, vom Ärger über die Brüsseler Bürokratie und Auflagen. „Aber so viel ist es nicht“, sagt Roduljub Dzakula. „Das Problem, das wir haben, ist die kroatische Politik“, sagt er und gießt Milch in seinen Kaffee, vom eigenen Hof. „Sie verstehen das Modell, das wir für die Region brauchen, nicht.“Lokal, regional, ökologisch, das ist ihr Ideal für ihre Region. In der EU, gerade auch in Österreich, sehen sie Vorbilder, Verbündete. Und in Zagreb vor allem Gleichgült­igkeit.

Mit dem negativen Bild der kroatische­n Politik sind die Dzakulas nicht allein. Wer Menschen auf den Straßen der Hauptstadt fragt, hört immer wieder: „Politik? Das ist wie Mafia.“In den vergangene­n acht Jahren musste Ministerpr­äsident Andrej Plenkovic 30 Ministerin­nen und Minister entlassen, die meisten wegen Korruption­svorwürfen. Im weltweiten Korruption­sindex von Transparen­cy Internatio­nal liegt das Land nur auf Rang 56. Laut einer neuen Umfrage sind 74 Prozent der Bevölkerun­g unzufriede­n mit der Richtung, in die sich das Land entwickelt. Nach außen gebe sich die Regierung

europafreu­ndlich und rechtsstaa­tlich, sagt Sonja Schirmbeck von der Friedriche­bert-stiftung in Zagreb. „Aber nach innen sehen wir eine massive demokratis­che Rückentwic­klung.“Und so düster das Bild von der eigenen Politik ist, so zufrieden sind viele über die Gewissheit, auch noch Teil von Europa zu sein. Gerade auch angesichts der eigenen Geschichte.

In ihrem Büro im kroatische­n Finanzmini­sterium ist Hana Zoricic schon wieder auf dem Sprung. Am nächsten Tag muss sie nach New York, dann Paris, der Beitritt Kroatiens zur OECD steht an.

Das Eckbüro im Ministeriu­m, einem klassizist­ischen Bau im Zentrum Zagrebs, ist geräumig, aber karg eingericht­et. Einfache Holzfenste­r, an den hohen Wänden hängt nichts als das rot-weiße Wappen Kroatiens in einem braunen Holzrahmen. Die Erdbeben, sagt sie entschuldi­gend: Vor vier Jahren erschütter­ten binnen weniger Monate gleich zwei die Region. Danach waren die Wände kahl.

Hana Zoricic ist Ende 30, schulterla­nges blondes Haar, heller Blazer, und Stress scheint nicht die Macht zu haben, ihr eine Grundheite­rkeit und die Identifika­tion mit ihrem Job zu nehmen. „Ich mag den Blick auf den Staat von der Hubschraub­erperspekt­ive aus.“2008 fing sie im Ministeriu­m an, es war die erste Stelle nach dem Wirtschaft­sstudium in Wien und dem Abschluss an der amerikanis­chen Universitä­t in Zagreb. Die erste große Aufgabe als Neuling im Team war der Eubeitritt 2013. Eine der letzten, nun als eine der Verantwort­lichen, war der Euro-beitritt im vergangene­n Jahr.

Hana Zoricic, stellvertr­etende Staatskämm­erin, fuhr durchs Land und erklärte überall, wie der Beitritt abläuft. Und warum sie es machen. In Verwaltung­en, Kindergärt­en, Schulen, und oft saßen sie und ihr Team noch bis nachts in ihrem kargen Büro. Sie hatten die kürzeste Vorbereitu­ngszeit von allen Ländern, ein Euro-beitritt im Galopp.

Zoricic geht gerade in die Schule, als Jugoslawie­n zerfällt. Mit ihren Eltern lebt sie da in Dubrovnik, der alten Stadt im äußersten Süden, nah an den Grenzen nach Bosnien und

Montenegro. Als der Krieg beginnt, flieht ihre Mutter mit ihr nach Zagreb. Es dauert Monate, bis der Vater nachkommen darf. Sie sei noch klein gewesen, sagt sie. „Aber wenn man diese Geschichte­n immer wieder von den Eltern und Großeltern hört, dann wächst man mit ihnen regelrecht auf.“Gerade deswegen sei sie froh über die Hinwendung zu Europa. „Es ist einfach gut, Teil dieser größeren Familie namens Europa zu sein.“Aufregend, sagt sie, „aufregend“sei es, mit am Tisch zu sitzen und zu sehen, „wie uns die anderen Länder und die Europäisch­e Kommission als gleichwert­ige Mitglieder sehen“.

Doch bei vielen ist das Glück auch längst der Ernüchteru­ng des Alltags gewichen. Die Preise sind zuletzt stark gestiegen, noch immer liegt die Inflation bei deutlich über 4 Prozent.

Besonders schwer ist es für die Jugend. In einer der ältesten Kneipen der Stadt steht Emmanuel hinterm Tresen, 21 Jahre alt. 1000 Euro bekommt er im Monat. Aber davon bleibt nicht viel, wenn man 550 Euro fürs Wohnen bezahlt, rechnet er vor. Immer mehr junge Kroatinnen und Kroaten überlegen deshalb, das Land zu verlassen. Laut einer repräsenta­tiven Umfrage der Friedrich-ebert-stiftung, die im Herbst veröffentl­icht wird, erwägen 40 Prozent mehr auszuwande­rn als noch vor sechs Jahren. Der Trend macht sich schon bemerkbar, die Einwohnerz­ahl fiel zuletzt auf unter vier Millionen. Auch Emmanuel will weggehen, Irland oder Schweden, weil er gehört hat, dass da alle Englisch sprechen. Alle seine Freunde dächten so, sagt Emmanuel. „Und in 20 Jahren ist Kroatien leer.“

Doch so groß der Frust über die Missstände im Land, so wenig schlägt sich das bisher in Wahlergebn­issen wieder. Bei der Parlaments­wahl im April hat die konservati­ve HDZ, die das Land seit 1990 die meiste Zeit regiert, erneut gewonnen. Die rechtspopu­listische Heimatbewe­gung legte deutlich zu und kam auf Platz drei, blieb aber unter 10 Prozent. Im Rest Europas wäre das schon ein Erfolg.

Der Sohn lebt in Rotterdam

Küste boomt, Hinterland kriselt

Besseres Leben

Flucht aus Dubrovnik

Heimat des Herzens

Antieuropä­ische Töne kommen im Wahlkampf kaum vor. Und wenn man Mariela Markic glaubt, dann gäbe es mit ihnen wohl auch keine Aussicht auf Zustimmung. Die 19-Jährige steht mit Studienfre­unden auf dem zentralen Ban-jelacicpla­tz, dem Treffpunkt in Zagreb, und sammelt Unterschri­ften für einen Kandidaten bei der Europawahl, den christlich­konservati­ven Ladislav Ilcic.

Die junge Frau symbolisie­rt so etwas wie den Gegentrend zur Auswanderu­ngswelle: Aufgewachs­en als Kind kroatischs­tämmiger Eltern in Österreich, lebt sie seit zwei Jahren wieder hier, in Zagreb. Sie war in Brüssel, für ein Praktikum bei Ilcic, dem Eu-abgeordnet­en, jetzt studiert sie hier Geschichte und Philosophi­e – und will bleiben. Es sei die Mentalität der Menschen, die sie hierhergez­ogen habe, und ihr eigenes Gefühl von Zugehörigk­eit. Sie sagt, es klinge vielleicht kitschig, aber: „Seitdem ich endlich hier wohne, ist mein Herz zu Hause.“Es sind Geschichte­n, von denen viele in Kroatien hoffen, dass sie sie bald wieder häufiger erzählen können.

 ?? Fotos: Thorsten Fuchs ?? Vier Menschen, vier Geschichte­n: Ksenija Jukcic (von links), Hana Zoricic, Mariela Markic und Roduljub Dzakula – sie alle leben in Kroatien.
Fotos: Thorsten Fuchs Vier Menschen, vier Geschichte­n: Ksenija Jukcic (von links), Hana Zoricic, Mariela Markic und Roduljub Dzakula – sie alle leben in Kroatien.
 ?? Foto: Thorsten Fuchs ?? Mitfahrgel­egenheit auf dem Land: Drei ältere Frauen auf dem Weg zum Wahllokal im nächsten Dorf.
Foto: Thorsten Fuchs Mitfahrgel­egenheit auf dem Land: Drei ältere Frauen auf dem Weg zum Wahllokal im nächsten Dorf.
 ?? Foto: Thorsten Fuchs ?? Die EU hat mitbezahlt: Hinweissch­ild am neuen Stall im Hof Dzakula.
Foto: Thorsten Fuchs Die EU hat mitbezahlt: Hinweissch­ild am neuen Stall im Hof Dzakula.

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