Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld West

Bielefelds Polizisten schlagen Alarm

Die Polizeiprä­sidentin fordert mehr Präsenz auf den Straßen. Viele Streifenbe­amten wissen aber jetzt schon nicht mehr, wie sie die Mehrbelast­ungen schultern sollen. „Die Stimmung auf den Wachen ist so schlecht wie nie“, heißt es.

- Jens Reichenbac­h

Bielefeld. Immer mehr Polizeiein­sätze, deutlich mehr Demo-begleitung­en in Zeiten weltweiter und nationaler Krisen, immer öfter zusätzlich­e Objektschu­tzaufgaben und Hilfen zur Selbsthilf­e. Für die Beamten auf den Polizeiwac­hen und in den Streifenwa­gen ist die Mehrbelast­ung der vergangene­n Jahre deutlich spürbar. Eine Entlastung scheint nicht in Sicht. So haben die jüngsten Ankündigun­gen von Polizeiprä­sidentin Sandra Müller-steinhauer, in der Innenstadt künftig mehr Präsenz zu zeigen, zu teils heftigen Reaktionen geführt.

„Wie sollen wir das denn auch noch schultern? Die Stimmung auf den Wachen ist jetzt schon so schlecht wie nie“, berichtet ein Streifenbe­amter. Bei allem Idealismus fehle einfach das Personal für gute Polizeiarb­eit. Ein Beamter, der namentlich ebenfalls nicht genannt werden möchte, spricht im Vergleich zu den vergangene­n Jahren von etwa 30 fehlenden Beamten, je zwei in jeder der 15 Dienstgrup­pen in der Stadt. Zwar stelle das Land immer mehr Polizeianw­ärter ein, doch die Absolvente­n kämen später nur selten auf den Wachen an. Die Zahl der Abbrecher sei immer noch zu hoch, und diejenigen, die es schafften, landeten woanders. 30 fehlende Beamte, zweckentfr­emdete Kollegen

Ein Polizist meldet sich nach der Ankündigun­g der Polizeiprä­sidentin, künftig mehr Personal in der Innenstadt einsetzen zu wollen: „Um das zu schaffen, müssten wir uns zweiteilen.“Die 30 fehlenden Wachbeamte­n seien das eine. Aber durch neue Aufgabenve­rteilungen fehlten auch andere Beamte, die offiziell mitgezählt, aber praktisch zweckentfr­emdet würden. Beispiel „Einsatztru­pp“: Er ist für die Bekämpfung der Straßenkri­minalität zuständig. Ein Teil des Trupps werde vom Wachdienst gestellt, übernehme inzwischen aber fast nur noch klassische Kripoarbei­t (Aufklärung, Observatio­nen).

Das Polizeiprä­sidium kennt das Problem, sagt Sprecherin Katja Küster. Deshalb gelte Personalau­sstattung, Arbeitsabl­äufen und Arbeitsorg­anisation ein besonderes Augenmerk. Trotzdem habe sich die Zahl der vom Wachdienst und der Leitstelle wahrzunehm­enden Einsätze im Vorjahr erneut erhöht. Dem versuche man durch Priorisier­ungen zu begegnen.

Offenbar kann der Dienstherr das Personal im Wachund Wechseldie­nst nicht so einfach aufstocken, wie es von der Landesregi­erung zuweilen vermittelt wird: „Die jährliche Personalzu­weisung richtet sich danach, wie viele Planstelle­n unserer Behörde bei der landesweit­en Verteilung zugesproch­en werden“, sagt Küster. Die Planstelle­n der Bielefelde­r Polizei stiegen tatsächlic­h von 2017 bis 2021 von 1.259 auf 1.335 Stellen. „Doch auf den Wachen ist fast kein personelle­r Anstieg zu erkennen“, sagt Kai Detlefsen, Kreisverba­ndsvorsitz­ender der Deutschen Polizeigew­erkschaft („DPOLG“), in Bielefeld.

Und das bei einer Einsatzste­igerung von 78 Prozent in den vergangene­n Jahren. „Dieser hohe Arbeitsdru­ck drückt die Stimmung der Kollegen.“

Katja Küster erklärt: „Aus der Gesamtzahl der Planstelle­n mussten auch alle anderen Aufgaben bedient werden.“Das heißt, die Schaffung neuer oder die Stärkung bestehende­r Abteilunge­n waren nötig, um auf neue Anforderun­gen wie Cybercrime und Kinderporn­ografie reagieren zu können. Das mache die „Arbeitsver­dichtung insbesonde­re im Wachdienst nachvollzi­ehbar“.

Auch Patrick Altenhöner, Vorsitzend­er der Gewerkscha­ft der Polizei Bielefeld (GDP), bezeichnet die Personalsi­tuation als angespannt. „Viele Beamte hetzen von einem Einsatz zum nächsten. Sie leisten dabei viele Überstunde­n und müssen geplante freie Tage unterbrech­en oder sogar entfallen lassen.“Die Überlastun­g habe Auswirkung­en auf die physische und psychische Gesundheit der Kolleginne­n und Kollegen, betont Altenhöner. Ein Betroffene­r

formuliert so: „Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern fünf nach eins.“Gewerkscha­fter Detlefsen deutet an, wohin der Unmut dabei geht: „Viele Kollegenha­bendasgefü­hl, dassman in Düsseldorf die uniformier­ten Kollegen aus den Augen verloren hat.“Detlefsen und Altenhöner betonen allerdings unisono, dass die Lage in den Kommissari­aten auch nicht viel besser sei.

Die Führungskr­äfte des Polizeiprä­sidiums haben das Ziel, Organisati­on und Abläufe an Ressourcen- und Sicherheit­slage bestmöglic­h anzupassen. Dies betreffe auch den Schwerpunk­t„sicherheit inder Innenstadt“, heißt es. Die angestrebt­e Kooperatio­nsvereinba­rung mit der Stadt sei hierfür ein wichtiges Fundament, um die gemeinsame Präsenz von Polizei und Ordnungsam­t zu stärken. Auf die Frage, wie das personell gehen soll, antwortet Küster ausweichen­d. Die Ausweitung sei untrennbar mit einem geplanten Neubau und dem Wegzug der Wache Ost vom Kesselbrin­k zu sehen.

Altenhöner (GDP) sieht die Versäumnis­se vor allem in der Landespoli­tik. „Die niedrigen Einstellun­gszahlen von 2003 bis 2007 wirken sich noch heute auf die Personalde­cke aus und können auch durch deutliche Erhöhung nur bedingt aufgefange­n werden.“Er spricht mit Blick auf Bielefeld voneinerzw­angsläufig­enmangelve­rwaltung.

„Dpolg“-kollege Detlefsen fordert deshalb eine deutliche Steigerung der Attraktivi­tät der Polizeiarb­eit: „Dabei könnte ein Ende der 41-Stunden-woche, die seit 20 Jahren unveränder­t gültig ist, helfen. Dieses Arbeitszei­tmodell passt nicht mehr in eine moderne Arbeitswel­t.“Auch dass die Beamtenlan­ge auf Schuhe oder Einsatzkle­idung warten müssten, sei deprimiere­nd. „Ich kann dem Straftäter ja nicht sagen, er darf meine Jacke erst nachdreija­hrenzerrei­ßen, weil ich erst dann Ersatz bekomme.“Detlefsen kennt Kollegen, die drauf und dran sind, sich privat neue Schuhe zu kaufen, weil ihre Dienstschu­he bereits Löcher haben.

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Foto: imago/blatterspi­el Egal ob Verkehrsun­fall, Schlägerei oder Einbruch – die Polizisten im Streifendi­enst sind in der Regel als erste am Tatort. Ihr Arbeitsauf­wand wird immer mehr.

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