Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Ost
Der ewige Putin
Am Wochenende stellt sich der russische Präsident zur Wiederwahl und wird eine komfortable Mehrheit hinter sich versammeln. Was sorgt dafür, dass die Menschen ihm weiter vertrauen, obwohl er das Land diktatorisch regiert und in einen blutigen Krieg gefüh
Moskau/berlin. Wenn es in der öffentlichen Debatte in Deutschland derzeit einen gibt, der für das elementar Böse steht, dann ist das Wladimir Putin. Anders als seinem Vorvorgänger Michail Gorbatschow, dem die Anerkennung des Westens laut seinem Biografen William Taubman wichtig war, sind Putin kritische Bewertungen offenbar herzlich egal. Ihm geht es um die Beliebtheit im eigenen Land, und diese ist ihm seit gut zwei Jahrzehnten sicher. Bei der Präsidentenwahl vom 15. bis 17. März kann er wieder auf breite Zustimmung setzen.
Laut Levada-center, dem einzigen unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Russlands, gaben im Februar 86 Prozentder Befragten an, sie seien mit der Politik des Präsidenten einverstanden– Werte, von denen ein deutscher Kanzler nur träumen kann.
Wie kommt es zu dieser Stabilität des Systems Putin, die aus westlicher Sicht schon wegen der Kämpfe in der Ukraine verstörend anmutet? Tatsache ist, dass der politische Wettbewerb in Russland eingeschränkt ist. Bei der Präsidentschaftswahl 2018, bei der Putin 76,7 Prozent der Stimmen bekam, hatte beispielsweise Osze-wahlbeobachter Michael Link (FDP) moniert, dass es im Wahlkampf keine Chancengleichheit gegeben habe. Aber: Nach Auffassung der meisten Experten hätte Putin die Mehrheit auch bei vollkommen offenen und transparenten Wahlen hinter sich.
Sein größtes Pfund ist, dass Putin (71) es geschafft hat, mit der Gesetzlosigkeit der 1990er-jahre aufzuräumen. Die „Schocktherapie“, mit der die Sowjetwirtschaft 1992 von einem Tag auf den anderen auf Marktwirtschaft umgestellt wurde, hattedenkollapsdes alten Wirtschaftssystems beschleunigt. Preise wurden freigegeben, Subventionen gestrichen, Staatsbetriebe verkauft. Die Folge: Armut und Arbeitslosigkeit griffen um sich, die Lebenserwartung fiel dramatisch. „Da war ein enormer Anstieg an Kriminalität in jeder Hinsicht“, erzählt der Journalist Wladimir Esipow. Die Gesellschaft habe sich rasant umgestellt von kommunistischen Einstellungen zu einem völlig ungeregelten Kapitalismus. „Das war nicht ein Silicon Valley, sondern eher eine komplett wilde Savanne, wo jeder jagte, was ihm schmeckte , ohne Rücksicht, ohne Regeln, ohne Normen“, so Esipow. Raubüberfälle auf der Straße oder Morde wegen einer Armbanduhr waren keine Seltenheit.
Dasparadoxe: Einerseits gab es im Land Freiheiten und Rechte, wie sie im Staatssozialismus unbekannt gewesen waren: freie Presse, Reise- und Versammlungsfreiheit. Andererseits war die Gesellschaft von Unsicherheit, Angst und Feindseligkeit durchzogen.
Nach seinem Amtsantritt 1999 gelangen Wladimir Putin zwei essenzielle Verbesserungen: Durch die Konsolidierung der staatlichen Institutionen stabilisierte er die öffentliche Ordnung. Dank eines rapide steigenden Ölpreises verschaffte er vielen Bürgern die Möglichkeit, am Ressourcenreichtum Russlands zu partizipieren. Der Lebensstandardstieg deutlich. Biszumende von Putins zweiter Amtszeit 2008 wuchs das russische
Bruttoinlandsproduktpro Jahr um 7 Prozent.
Esipow, der als Chefredakteur der russischen „Geo“von 2008 an von Kaliningrad bis Wladiwostok unterwegs war, erinnert sich: „Wie schnell und wie massiv sich die Gesellschaft entwickelt hat in Sachen Infrastruktur, war beeindruckend. Überall neue Flughäfen, überall neue Hotels, überallneuerestaurants, überall unwahrscheinliche unternehmerische Energieundneugier und Tatkraft.“
Was Esipow da beobachtete, gilt bis heute. Die Lebensführung der Russinnen und Russen ist inzwischen sehr westlich geprägt, obwohl der Kreml eine antiwestliche Haltung vorgibt. Doch diese wird nicht messianisch propagiert.
„Das moderne Russland gleicht heute irgendeinem europäischen Land oder den USA viel mehr als noch in den 1990er-jahren“, erklärt die russischstämmige Us-politologin Olga Oliker. „Nicht nur in Moskau und Sankt Petersburg, sondern auch in Städten wie Rostow am Don, Nischni Nowgorod oder Chabarowsk gibt es überall Coffee-shops und Sushibars, die Leute gehen ins Kino und so weiter.“
Politik rückt da in den Hintergrund: „Dem Normalbürger ist es wichtiger, seinen Kindern eine gute Erziehung zukommen zu lassen, eine schöne Küche zu haben oder in den Urlaubzufahren, als sichdurch einen bestimmten Oppositionspolitiker vertreten zu lassen“, sagt Oliker.
Den diktatorischen Teil des Systems nehmen Bürgerinnen und Bürger auch deshalb nicht so wahr, weil sie nicht mehr aktiv für den Staat sein müssen, wie es im Sozialismus der Fall war. Schwierigkeiten bekommt nur, wer sich offen gegen die Machtstrukturen auflehnt. Doch die wenigsten
Menschen sind Helden wie Alexej Nawalny. Repressionen müssen auch die nicht fürchten, die an öffentlichen Angelegenheiten zwar interessiert sind, aber keine umstürzlerischen Gedanken hegen.
Die breite Masse wird mit einfachen Losungen, die durch die Medien verbreitet werden, reichlich bedient. Der Kreml beeinflusst die öffentliche Meinungsbildung sehr gezielt, indem er Fernsehsender wie den Perwij Kanal, NTV oder Rossija 1 sowie Zeitungen wie die „Iswestija“oderden„moskowskij Komsomolez“unter seine Kontrolle oder die regierungsnaher Kreise gebracht hat.
Das Fernsehen – das vornehmlich Älteren und Menschen auf dem Land als Hauptinformationsquelle dient– bietet Propagandisten wie Wladimir Solojow eine Plattform mit hoher Reichweite. Seine im staatlichen Rossija 1 ausgestrahlte Talkshow „Sonntagabend“ist eine der wichtigsten Propagandasendungen, insbesondere wenn es um den Krieg gegen die Ukraine geht. Gezielte Desinformationen stützen das System Putins.
Das Blutvergießen in der Ukraine könnte bei manchem Bürger theoretisch doch Zweifel an der Staatsführung wecken. Doch auch das handhabt das Regime so, dass die Systemfrage erst gar nicht aufkommt. Die Soldaten werden oft in entlegenen Landesteilen Sibiriens rekrutiert, wo es schon wegen der geringen Bevölkerungsdichte schwer ist, Widerstand zu organisieren. Verlieren die Familien einen Sohn, Bruder, Enkel oder Neffen im Kampf, werden ihnen umgerechnet 63.120 Euro gezahlt. Im ländlichen Sibirien ist das sehr viel Geld.
Der Rückhalt für den Feldzug gegen die Ukraine ist zwar verhältnismäßig schwach ausgeprägt: „60 Prozent der Russen wollen eigentlich mit keinem Problem irgendetwas zu tun haben“, sagt der ehemalige russische Diplomat Boris Bondarew. „Ob das Politik ist oder ein Krieg. Aber solange sie dieser Krieg nicht direkt betrifft, solange ihre Häuser nicht von Bomben getroffen werden, dann ist das in Ordnung für sie. Sie versuchen, sich vor diesen Informationen zu verstecken, ihnen auszuweichen. Es ist in den meisten Fällen eine Art Gleichgültigkeit.“