Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Ost
Das Liebespaar des Jahrhunderts
Folge 50
Eines Tages war sie dort in ihrem Büro umgekippt, inmitten von Büchern und Stapeln von Kopierpapier. Als sie wieder zu sich gekommen sei, erzählte sie, habe sie gewusst, dass sie so nicht mehr weiterleben könne. Sie hatte ihren
Freund verlassen und war eine lange Zeit ganz allein durch Jordanien gereist, durch den Jemen und weite Teile Nordafrikas. Sie war eine schlanke Person, lebendig und voller Energie. Ihre
Geschichte beeindruckte mich.
Es war ihr anzumerken, dass sie alle Angst überwunden hatte. Sie war eine unabhängige Frau. Aber dann, ganz plötzlich, empfand ich Mitleid mit ihr. Ihr Kampf, der vielleicht noch immer andauerte, hatte sie gleichzeitig sehr ernst werden lassen.
Ihre Unabhängigkeit stimmte mich traurig.
Ich wollte nicht allein verreisen, allein wohnen, allein essen, allein mit meiner Arbeit sein. Die Tatsache, alles allein zu schaffen, erschien mir wie eine Kriegsbeute.
Ich dachte an die Zeilen in einem Gedicht von Edna St. Vincent Millay: Frei sein ist nichts: ich wollt, ich wäre dein.
War das Schwermut? Ja, ich wurde schwermütig. Unsere Geschichte erschien mir groß. Zu groß fast. Ich wusste nicht, ob ich zu so etwas überhaupt fähig war, ich hatte keine Wörter, umüber sie zu sprechen, umzu dir zu sprechen, mit dir. Keine Wörter mehr zu haben habe ich immer als das Ende empfunden.
Ich wurde krank. Duwarst besorgt ummich. Das machte mich glücklich, obwohl ich so krank war. Die Ärztin, zu der ich regelmäßig ging, nahm mir Blut ab. Die Untersuchung ergab, dass meine Werte besorgniserregend waren. Das Ergebnis erleichterte mich. Es bestätigte, dass ich mich zu Recht krank fühlte. Die Ärztin sagte, manmüsse die Werte im Auge behalten. Sie wirkte genauso besorgt wie du. Sie riet mir, im Park spazieren zu gehen. Ich schaute sie entgeistert an, und sie senkte den Blick. Ich war ihr nicht böse. Ich war ja genauso ratlos wie sie.
Zwei oder drei Winter lang spendierte sie mir einen speziellen Impfcocktail gegen die Grippe. Vielleicht wollte sie sich mit dieser Geste dafür entschuldigen, dass sie mein Kranksein nur begleiten konnte, anstatt es aus der Welt zu schaffen. Ich hatte den Eindruck, ihr wäre wohler gewesen, wenn ich sie in gesundem Zustand aufgesucht hätte. Einmal, es war ein schöner Frühlingstag, rief sie in meinem Beisein einen befreundeten Neurologen an. Sie gehen da jetzt sofort hin, befahl sie mir danach in erschrockenem Ton. Da ich eine eingeschobene Patientin war, musste ich lange in seiner Praxis warten. Vom Wartezimmer aus sah man über die Dächer der Stadt, den Springbrunnen unten auf dem Platz, ein paar Touristen.
Gleich beim Hereinkommen hielt der Arzt mir eine Kleenexbox hin, und ich schämte mich, weil ich so durchschaubar war. Ich konnte ihm keine originellere Reaktion anbieten, als in Tränen auszubrechen. Auch zu meinem Zustand fiel mir nicht mehr ein als die Floskel, ich säße in einem schwarzen Loch. Er fragte nach meiner Beziehung. Ich hatte Mühe zu sprechen. Während ich nach Worten suchte, konzentrierte ich mich auf die an der Fensterscheibe befestigte Sichtblende hinter ihm. Genau diese Art von Jalousie hing bei uns seit langer Zeit schief und unbrauchbar vor der unteren Hälfte des Küchenfensters. Die Akkuratesse, mit der diese hier befestigt war, steigerte meine Verzweiflung noch.
Ich wich seinen Fragen aus. Meine Sätze klangen sogar für mich verrätselt, wie die eines Orakels. Ich hatte den Eindruck, es wäre Verrat, wenn ich mit ihm über dich und mich spräche. Als gäbe ich unsere Geschichte preis. (Fortsetzung folgt) © 2023 dtv Verlagsgesellschaft mbh & Co. KG, München