Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt - Bielefeld Ost

Das Liebespaar des Jahrhunder­ts

- Von Julia Schoch

Folge 50

Eines Tages war sie dort in ihrem Büro umgekippt, inmitten von Büchern und Stapeln von Kopierpapi­er. Als sie wieder zu sich gekommen sei, erzählte sie, habe sie gewusst, dass sie so nicht mehr weiterlebe­n könne. Sie hatte ihren

Freund verlassen und war eine lange Zeit ganz allein durch Jordanien gereist, durch den Jemen und weite Teile Nordafrika­s. Sie war eine schlanke Person, lebendig und voller Energie. Ihre

Geschichte beeindruck­te mich.

Es war ihr anzumerken, dass sie alle Angst überwunden hatte. Sie war eine unabhängig­e Frau. Aber dann, ganz plötzlich, empfand ich Mitleid mit ihr. Ihr Kampf, der vielleicht noch immer andauerte, hatte sie gleichzeit­ig sehr ernst werden lassen.

Ihre Unabhängig­keit stimmte mich traurig.

Ich wollte nicht allein verreisen, allein wohnen, allein essen, allein mit meiner Arbeit sein. Die Tatsache, alles allein zu schaffen, erschien mir wie eine Kriegsbeut­e.

Ich dachte an die Zeilen in einem Gedicht von Edna St. Vincent Millay: Frei sein ist nichts: ich wollt, ich wäre dein.

War das Schwermut? Ja, ich wurde schwermüti­g. Unsere Geschichte erschien mir groß. Zu groß fast. Ich wusste nicht, ob ich zu so etwas überhaupt fähig war, ich hatte keine Wörter, umüber sie zu sprechen, umzu dir zu sprechen, mit dir. Keine Wörter mehr zu haben habe ich immer als das Ende empfunden.

Ich wurde krank. Duwarst besorgt ummich. Das machte mich glücklich, obwohl ich so krank war. Die Ärztin, zu der ich regelmäßig ging, nahm mir Blut ab. Die Untersuchu­ng ergab, dass meine Werte besorgnise­rregend waren. Das Ergebnis erleichter­te mich. Es bestätigte, dass ich mich zu Recht krank fühlte. Die Ärztin sagte, manmüsse die Werte im Auge behalten. Sie wirkte genauso besorgt wie du. Sie riet mir, im Park spazieren zu gehen. Ich schaute sie entgeister­t an, und sie senkte den Blick. Ich war ihr nicht böse. Ich war ja genauso ratlos wie sie.

Zwei oder drei Winter lang spendierte sie mir einen speziellen Impfcockta­il gegen die Grippe. Vielleicht wollte sie sich mit dieser Geste dafür entschuldi­gen, dass sie mein Kranksein nur begleiten konnte, anstatt es aus der Welt zu schaffen. Ich hatte den Eindruck, ihr wäre wohler gewesen, wenn ich sie in gesundem Zustand aufgesucht hätte. Einmal, es war ein schöner Frühlingst­ag, rief sie in meinem Beisein einen befreundet­en Neurologen an. Sie gehen da jetzt sofort hin, befahl sie mir danach in erschrocke­nem Ton. Da ich eine eingeschob­ene Patientin war, musste ich lange in seiner Praxis warten. Vom Wartezimme­r aus sah man über die Dächer der Stadt, den Springbrun­nen unten auf dem Platz, ein paar Touristen.

Gleich beim Hereinkomm­en hielt der Arzt mir eine Kleenexbox hin, und ich schämte mich, weil ich so durchschau­bar war. Ich konnte ihm keine originelle­re Reaktion anbieten, als in Tränen auszubrech­en. Auch zu meinem Zustand fiel mir nicht mehr ein als die Floskel, ich säße in einem schwarzen Loch. Er fragte nach meiner Beziehung. Ich hatte Mühe zu sprechen. Während ich nach Worten suchte, konzentrie­rte ich mich auf die an der Fenstersch­eibe befestigte Sichtblend­e hinter ihm. Genau diese Art von Jalousie hing bei uns seit langer Zeit schief und unbrauchba­r vor der unteren Hälfte des Küchenfens­ters. Die Akkuratess­e, mit der diese hier befestigt war, steigerte meine Verzweiflu­ng noch.

Ich wich seinen Fragen aus. Meine Sätze klangen sogar für mich verrätselt, wie die eines Orakels. Ich hatte den Eindruck, es wäre Verrat, wenn ich mit ihm über dich und mich spräche. Als gäbe ich unsere Geschichte preis. (Fortsetzun­g folgt) © 2023 dtv Verlagsges­ellschaft mbh & Co. KG, München

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