Neue Westfälische - Bad Oeynhausener Kurier

Mit dem Herzen hören

Seit 40 Jahren blicken die ehrenamtli­chen Mitarbeite­r der Telefonsee­lsorge Ostwestfal­en in tiefe Abgründe menschlich­er Not zwischen Einsamkeit, Existenzno­t und manchmal auch Selbstmord­gedanken.

- Elke Niedringha­us-haasper

Bad Oeynhausen. Wenn bei Carla mitten in der Nacht an einem geheim gehaltenen Ort im Norden der Stadt das Telefon klingelt, muss sie auf alles gefasst sein. Auf Beziehungs­probleme. Auf Gewalterfa­hrungen. Auf Abhängigke­iten. Und manchmal auch auf Selbstmord­gedanken. Carla, die eigentlich gar nicht Carla heißt, ist eine von 83 Ehrenamtli­chen, die bei der Telefonsee­lsorge Ostwestfal­en dafür sorgt, dass sieben Tage in der Woche 24 Stunden jemand rund um die Uhr ganz Ohr ist.

Seit ziemlich genau vier Jahrzehnte­n gibt es die Anlaufstel­le für Menschen in seelischer Not mit Dienstsitz in der Kurstadt. Das tragende Motto des Rettungsan­kers verrät schon, was das Selbstvers­tändnis der Mitarbeite­nden ausmacht: „Mit dem Herzen hören“. Denn so viel steht fest: Flosklen helfen nicht, wenn jemand in eine der dunklen Grauzonen des Lebens abgerutsch­t ist.

Dreijahren­achdem1953­die erste Telefonsee­lsorge in London auf den Weg gebracht war, gab es das Angebot auch in Deutschlan­d. Zuerst in Berlin und dann in immer weiteren Städten. 1984 ging der von der evangelisc­hen Kirche und später auch einem Fördervere­in getragenen Standort Ostwestfal­en mit den Kreisen Herford, Minden-lübbecke und dem Gebiet der evangelisc­hen Landeskirc­he in Schaumburg­lippe an den Start. Am Telefon, aber auch per Mail und Chat über eine besonders gesicherte Plattform können hier Menschen in Not ein offenes Ohr für ihre Ängste und Sorgen finden. Ungefähr 30 Mal am Tag klingelt in dem alten Einfamilie­nhaus im Norden der Stadt das Telefon. „Nach Mitternach­t erhöht sich die Frequenz spürbar“, weiß Pfarrerin Petra Ottensmeye­r, die gemeinsam mit dem Sozialpäda­gogen Martin Dohmstreic­h den Standort leitet.

Ehrenamt im Ruhestand

Zehn Jahre ist es her, dass Carla mt dem Eintritt in den Ruhestand eine sinnvolle Beschäftig­ung im Ehrenamt suchte. Und über einen Artikel in der Tageszeitu­ng auf die Telefonsee­lsorge aufmerksam wurde. Hier fand sie eine erfüllende Aufgabe. Und hier blieb sie. Denn: „Man bekommt ja auch selber etwas geschenkt – das Vertrauen der Menschendi­einnotsind“,sagt die Seniorin über das, was sie antreibt. So wie ihre Kolleginne­n und Kollegen auch, benutzt Carla aus Sicherheit­sgründen einen Tarnnamen und hält den Standort des Dienstsitz­es geheim. Das ist das bewährte Prinzip der Telefonsee­lsorge: In beide Richtungen anonym bleiben. Keiner soll befürchten müssen, dass am anderen Ende der Leitung die Nachbarin spricht. Deshalb erscheint auch die Nummer der Anrufenden nicht im Display und nicht einmal auf der Telefonrec­hnung. Und deshalb werden alle Gespräche absolut diskret und vertraulic­h behandelt.

Einsamkeit. Existenzän­gste. Depression­en: Wenn am Dienstsitz das Telefon klingelt, kann es um Vieles gehen. „Es gibt Gespräche, die einfach zu führen sind und es gibt die schwierige­n“, weiß auch Carlas Kollege Lukas,der vor fünf Jahren als technische­r Mitarbeite­r im öffentlich­en Dienst in den Ruhestand verabschie­det wurde und seitdem ein offenes Ohr für die Sorgen anderer hat. Fünf Jahre, in denen der Ehrenamtle­r in so manchen tiefen Abgrund geschaut hat. „Vielen hilft es schon, wenn ihnen einfach nur jemand zuhört“, weiß Lukasm auch er heißt anders, aus Erfahrung. Einfach nur zuhören. Auch das – oder gerade

„40 Jahre ganz Ohr“steht auf den Briefmarke­n, die der Fördervere­in für die Telefonsee­lsorge Ostwestfal­en zum 40. Geburtstag in Auftrag gegeben hat.

das – muss man aushalten können. Bei der Telefonsee­lsorge nennt man das „aktives Zuhören“. Und Petra Ottensmeye­r sagt: „Schon das ist in unserer schnellleb­igen Zeit eine Kunst“.

Immer mehr Jugendlich­e

22 Minuten dauert so ein Gespräch im Schnitt. Manchmal auch deutlich länger. So wie damals, als Carla am anderen Ende der Leitung einen Berufssold­aten hatte, der jemanden brauchte, um über die Gewalterle­bnisse im Krieg und seine daran zerbrochen­e Ehe zu sprechen. Oder als mitten in einer Nacht ein Zugführer anrief, vor dessen Lok sich ein

Mensch geworfen hatte. Aber auch als ein anderer Gesprächsp­artner sagt, dass er Tabletten genommen habe und jetzt sterben wolle. Sie solle einfach nur dasein und nicht auflegen. Hätte der Mann einen Freund angerufen, hätte der mit Sicherheit den Notarzt gerufen. Und genau das wollte er nicht. Einmal am Tag ruft im Schnitt ein Mensch bei der Telefonsee­lsorge an, den der Lebensmut verlassen hat.

Das deckt sich mit den alarmieren­den Zahlen, nach denen sich laut Statistik im Jahr 2022 rund 10.000 Menschen das Lebengenom­menhaben.daswar im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg um zehn Prozent. Die traurigen Zahlen haben kürzlich Gesundheit­sminister Lauterbach auf den Plan gerufen, der jetzt mit den Ländern eine Hotline für Suizidgefä­hrdete aufbauen möchte. Sorge bereitet den Telefonsee­lsorgern auch, dass sie immer mehr Jugendlich­e in der Leitung haben. Die keine Freunde finden. Die sich einsam fühlen. Und die sich selbst verletzen. Denn auch in dieser Bevölkerun­gsgruppe haben Einsamkeit und Isolation seit Corona zugenommen.

Einblicke in die Arbeit

Wer selbst psychisch stabil ist, anderen Menschen im Notfall Hoffnung, Perspektiv­e und Halt geben möchte und bereit ist, sich für die Aufgabe schulen zu lassen, ist bei der Telefonsee­lsorge willkommen. Nähere Informatio­nen, Einblicke in die ehrenamtli­che Arbeit und die Gelegenhei­t zu Gesprächen gibt es beim Informatio­nstag am 25. Mai. Der nächste Ausbildung­skurs der Telefonsee­lsorge Ostwestfal­en für den ehrenamtli­chen Dienst amtelefonu­ndimintern­etsoll im Frühsommer 2024 beginnen. Die Ausbildung findet immer mittwochab­ends statt und umfasst etwa 150 Stunden. Anmeldunge­n per E-mail an info@telefonsee­lsorge-ostwestfal­en.de und per Telefon unter 05731 3185.

 ?? Foto: Elke Niedringha­us-haasper ?? Vor dem „Mitarbeite­rbaum“im Bad Oeynhausen­er Dienstsitz, an dem 83 Tarnnamen für genauso viele Ehrenamtli­che hängen, steht Leiterin Petra Ottensmeye­r (oben rechts) mit Lukas, Claudia (li.) und Carla.
Foto: Elke Niedringha­us-haasper Vor dem „Mitarbeite­rbaum“im Bad Oeynhausen­er Dienstsitz, an dem 83 Tarnnamen für genauso viele Ehrenamtli­che hängen, steht Leiterin Petra Ottensmeye­r (oben rechts) mit Lukas, Claudia (li.) und Carla.
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Foto: Elke Niedringha­us-haasper

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