Ende der Durststrecke
Mehr als drei Monate waren die Kneipen in London wegen der Corona-Krise geschlossen. Am Wochenende öffneten sie wieder. Und das ist im Land der Pubs weit mehr als eine schnöde Lockerung. Schließlich sind sie fester Bestandteil des Alltagslebens
London Es gibt in diesen etwas tristen Zeiten – und in Großbritannien dauern diese dank Brexit und dem ausgeprägten Hang zum Politdrama schon ziemlich lange an – nicht allzu viel, was das Land noch eint. Die Gesellschaft ist heillos zerstritten und gespalten. Als sozialer Kitt dienen den 66 Millionen Briten lediglich zwei Dinge: das nationale Gesundheitssystem NHS. Und ihre Liebe zum Pub.
Im Pub wird allabendlich die Welt neu erfunden, und manchmal ist sie anschließend tatsächlich eine andere. Ein wenig zumindest. Im Pub also wurden der große Postzugraub von 1963 geplant und der spektakuläre Juwelenraub 2015. Oder Politiker verraten Journalisten beim Bier, was hinter den Kulissen abläuft. Es gehört zum Alltag, nach Feierabend noch kurz im Pub auf ein Pint Ale oder Lager vorbeizuschauen, ob mit Kollegen oder Geschäftsleuten. Familie und Freunde trifft man sonntags schon mittags zum Sunday Roast.
Es fiel Premierminister Boris Johnson dementsprechend schwer, am 20. März die Kneipen in den Lockdown zu schicken. „Ich weiß, dass wir etwas Außergewöhnliches machen. Wir nehmen das uralte und unveräußerliche Recht frei geborener Menschen weg, in den Pub zu gehen“, sagte der Regierungschef damals. Das klang pathetisch, aber verdeutlichte dem Volk den Ernst der Corona-Pandemie: Wenn es erst einmal dem Pub an den Kragen geht, dann steht Schlimmes bevor. Und es wurde schlimm.
Am Samstag nun durften neben Restaurants, Hotels, Kinos und Friseuren auch die Pubs in England erstmals nach dreieinhalb Monaten wieder öffnen, während die Gastronomie in Wales seit Sonntag die Erlaubnis zum Ausschank hat. In Schottland müssen sich die Menschen noch bis nächste Woche gedulden. Man erwache, so Johnson, aus dem „nationalen Winterschlaf“.
Die Zeitungen mit den großen Buchstaben prophezeiten ein „PubAgeddon“, einen apokalyptischen Ansturm auf die Wirtshäuser. Und sprachen abwechselnd von „Super Saturday“oder „Superspreaderday“. Dabei wurde mit sechs Uhr morgens eine selbst für englische Verhältnisse ungünstige Startzeit zum kollektiven Besäufnis genannt. Zu groß war die Sorge der Behörden, dass einige Lokale bereits um Mitternacht öffnen würden und die ganze Sache eskalieren und das Coronavirus einen neuen Verbreitungsschub bekommen könnte.
Würden die Menschen in Scharen ausschwirren und die Notaufnahmen nachts aussehen wie „ein Zirkus voller betrunkener Clowns“, wie die Polizei befürchtete?
Die Öffnung der Pubs diente vor allem als Schmierstoff für die britische Seele, die angesichts von mehr als 44 000 Toten und einer eingebrochenen Ökonomie geschunden und traumatisiert aus dem Lockdown kommt. „Unser soziales Leben kehrt zurück, es ist solch eine Erleichterung“, sagt der 36-jährige Jake und bezeichnet den Pub als nichts weniger als „eine Erweiterung unseres Zuhauses“. Der Brite sitzt am Samstagabend mit seinem Kollegen Samir im „Draft House“, einer Schänke unweit entfernt von den weiterhin im Dunkeln liegenden Theatern des Londoner West End. Auf dem Boden geben aufgeklebte Markierungen den erforderlichen Abstand der Tische von einem Meter vor. „Trinkt zusammen, bleibt auseinander“steht da.
Sonst schon passen in die Kneipe nur rund zehn Tische, jetzt sind es gerade einmal fünf mit jeweils zwei Gästen. Vor dem Eintritt muss man Name und Telefonnummer hinterlassen, die Kunden werden neuerdings am Tisch bedient. Wenn möglich, soll per App bestellt werden. Man habe das Prozedere in den beiden Tagen zuvor geübt, erzählt Robert, der an der Tür des zur Kette „Brewdog“zählenden Pubs auf Einhaltung der strikten Regeln beharrt. Er strahlt unter seiner Gesichtsmaske und freut sich, endlich wieder arbeiten zu können, nach mehr als 100 Tagen Stillstand.
Und doch herrschen gemischte Gefühle. „Weil die Kneipen wieder geöffnet haben, denken die Leute, die Pandemie ist vorüber“, ist sein Eindruck. Ein gefährlicher Irrglaube angesichts der noch immer vergleichsweise hohen Infektionszahlen. Endlich in den Pub zu können, sei jedoch das Einzige, was für die Leute zähle. „Es ist unsere Kirche.“In den Pub geht der Brite in schlechten wie in guten Zeiten. Er kann die schlechten ertränken und auf die guten trinken.
Um die Verluste der vergangenen Wochen aufzufangen, wurden allerorts die Preise angezogen. Gewissermaßen sollen die Trinker die britische Wirtschaft retten. Das fünfte Pint ein Akt von Patriotismus. England eben. Man darf erwarten, dass jeder seiner Pflicht nachkommt.
Reporter der großen Zeitungen und Fernsehsender sind am Wochenende in die wenigen um sechs Uhr morgens geöffneten Pubs ausgesandt worden, um in der Früh die ersten Besucher zu interviewen. Es erschienen, man glaubt es kaum, nicht allzu viele Gäste. Immerhin, ein Mann namens Jimmy lief direkt von der Nachtschicht in seiner Stammkneipe ein, um die Wirtschaft des Landes anzukurbeln. Er ließ sich mit den Worten zitieren, dass der erste Schluck seines Lagers geschmeckt habe, als ob ein Engel auf seine Zungenspitze gepinkelt habe.
Der Pub ist nicht einfach eine Kneipe, das verrät bereits die schöne Bezeichnung des Public House.
Klassisch kommt es mit einem Kamin, schweren Holzmöbeln, dicken Teppichen, dunkel getönten Scheiben und abgewetzten Sofas daher. In der Antike suchten die durstigen römischen Besatzer einen Ort, um sich zu betrinken, also kamen Gasthäuser für Reisende auf. Weil meist ein Dorfbewohner allesamt zu Speis und Trank zu sich einlud, setzte sich der Begriff durch. In London finden sich zahllose historische Pubs voller Charakter und Charme. Sie haben über die Jahrhunderte ihre Schrulligkeit kultiviert.
Zwar wurde die berüchtigte Sperrstunde vor einigen Jahren gekippt, doch die meisten Kneipen lassen noch immer kurz vor elf die Glocke ertönen, um zur „last order“zu rufen. Tradition bleibt Tradition. Während des Ersten Weltkriegs war die Sperrstunde eingeführt worden, um sicherzustellen, dass die Arbeiter der Munitionsfabriken einigermaßen nüchtern zur Morgenschicht erschienen. Die Folge war die sehr britische Eigenart der Druckbetankung bis 23 Uhr.
Die Bedeutung des Pubs in der englischen Kultur könne nicht überbetont werden, schreibt die Anthropologin Kate Fox in ihrem nationalen Bestseller „Watching the English“. Die Autorin ist so eine Art Wächterin englischer Macken und Marotten und hat für ihre Beobachtungen viele Stunden in Pubs verbracht. Nur hier, so betont sie, treffen Menschen jeden Alters, aller sozialen Klassen, jeden Bildungsstands sowie aller Berufsgruppen zusammen. Und nur hier passiere es, dass eine ihrer Meinung nach besondere Geselligkeitsregel in Kraft tritt, die eine entscheidende Rolle spiele: So sei der Tresen einer der wenigen Orte in England, wo es als sozial akzeptabel und angemessen gilt, ein Gespräch mit einem völlig Fremden zu beginnen.
Das ist insofern bemerkenswert, als die Briten ihre Neigung zur Zurückhaltung und Reserviertheit über die Jahrhunderte perfektioniert haben. Blickkontakt in der U-Bahn gilt bereits als Affront. Nur im Pub herrscht eine andere Norm, sozusagen ein „Bar-Code“. „Die Engländer sind zugeknöpft und gehemmt, und wir brauchen alle Hilfe, die wir bekommen können.“Das System der fehlenden Bedienung am Tisch sei konzipiert, um Geselligkeit zu fördern. Nur unwissende Touristen verlassen mitunter schäumend den Pub, weil sie vergeblich am Tisch sitzend darauf warten, bedient zu werden. In Großbritannien wird an der Bar bestellt und bezahlt.
Die neuen Maßnahmen untersagen es jedoch, dass sich wie gewöhnlich Trauben um den Tresen bilden. Stattdessen Service am Tisch, auch wenn es schwerfällt, wie die ersten Tage gezeigt haben. Corona hat die Briten, wenn man so will, zu kontinentaleuropäischen Sitten gezwungen. Das könnte man auch als Höchststrafe für den stolzen Engländer bezeichnen, umso mehr in Brexit-Zeiten.
Trotz der Erlaubnis, wieder zu öffnen, waren etliche Pubs in Londons Innenstadt auch an diesem Wochenende geschlossen. So blieb beispielsweise das Lamb & Flag im sonst geschäftigen Viertel Covent Garden zu. Es galt als der Lieblingspub von Charles Dickens und erhielt im 19. Jahrhundert den wunderbaren Beinamen „The Bucket of Blood“, „Eimer voller Blut“, weil die Faustkämpfe meist unschön endeten. Auch das Coach & Horses, in dem – es erübrigt sich fast, es zu erwähnen – Charles Dickens ebenfalls gerne und viel soff, entschied sich, mit der Öffnung noch bis nach dem Wochenende zu warten. Wie wollen sie profitabel wirtschaften, wenn die wenigen Tische in den kleinen Lokalen meist nur Zierde darstellen, weil man traditionell im Pub steht?
Bereits am Samstagnachmittag pilgerten Feierwütige ins Londoner
Kommt es zum Ansturm auf die Pubs?
Im Ausgehviertel Soho wird ein Straßenfest gefeiert
Ausgehviertel Soho. Jene Straßen mit besonders vielen Kneipen, Restaurants und Clubs hatte die Polizei vorsorglich für den Verkehr gesperrt. Und weil die Lokalitäten nur eine bestimmte Anzahl von Besuchern hereinlassen durften, verlagerte sich das Gelage nach draußen. Es wurde ein großes Straßenfest. Distanzhalten – wurde mit jedem Schluck Alkohol weiter zur Nebensache. Irgendwann lagen sich die Besoffenen in den Armen und aufgebrezelte Frauen in sehr kurzen Röcken tanzten mit Dragqueens. Und aufgebrezelte Männer in sehr engen Hemden prosteten mit ihren Plastikbechern jedem vorbeikommenden Passanten zu. Am Abend tummelten sich tausende von Menschen mit Getränken in Händen um die vollen Kneipen. „Es ist Soho“, sagte wie zur Erklärung einer der Sicherheitsmänner, die es längst aufgegeben hatten, zum Abstandhalten zu mahnen.
Im French House, einer Londoner Institution, wo man es zivilisierter findet, nur halbe Pints auszuschenken, drängelten sich die Stammkunden, die sich gerne als Schriftsteller und Philosophen ausweisen. „Ist es nicht großartig, dass wir endlich wieder unsere Freiheit zurückhaben?“, lallte ein Herr im abgewetzten Anzug so ziemlich jeden an, der es hören oder nicht hören wollte.
Der Vorsitzende des Polizeiverbands von England und Wales, John Apter, resümierte am Tag danach: „Was kristallklar war, ist, dass betrunkene Menschen nicht auf soziale Distanz gehen können/werden.“Trotz einiger Aussetzer und Alkoholexzesse, die Mehrheit der Feiernden habe sich verantwortungsvoll verhalten, hieß es von den Beamten. Und das, obwohl am ersten Tag der Wiedereröffnung von Pubs und Restaurants geschätzte 15 Millionen Pints getrunken wurden.