Neuburger Rundschau

„Daran darf man gar nicht denken!“

An der Grenze zwischen der Türkei und Griechenla­nd sammeln sich Tausende Flüchtling­e. Auf beiden Seiten wächst die Angst vor einer weiteren Eskalation. Ein Ortsbesuch zwischen Wut, Ohnmacht und Tränengasg­ranaten

- AUS DEM GRENZGEBIE­T BERICHTET GERD HÖHLER

Sie rütteln an den Gittern, die den Grenzüberg­ang versperren. Mit Stöcken schlagen sie auf den Stacheldra­ht ein. Sie pfeifen und johlen. Manche sind hoch in die Bäume hinaufgekl­ettert, damit ihre Botschaft möglichst weit zu hören ist. „Freiheit, Freiheit“und „Wir wollen nach Europa“, rufen sie. Andere halten selbstgema­lte Pappschild­er hoch. „Open the gate“, steht auf einem. Öffnet das Tor. Auf einem anderen der Hilferuf: „Merkel help!“Seit der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan Ende Februar die Schlagbäum­e zu Griechenla­nd öffnete, herrscht Ausnahmezu­stand am griechisch-türkischen Grenzüberg­ang Kastanies. Immer wieder drohte Erdogan der EU damit, er werde „die Grenztore öffnen“und Europa mit Millionen Migranten überschwem­men. Hier erlebt man, was das bedeutet.

Der türkische Präsident versucht, politische Rückdeckun­g der Europäer für seine Militärope­rationen in Syrien zu erzwingen und in Brüssel weitere Milliarden­hilfen für die Versorgung der vier Millionen Flüchtling­e locker zu machen, die sein Land bereits beherbergt. Jetzt drängen weitere Hunderttau­sende Schutzsuch­ende aus der umkämpften Provinz Idlib in die Türkei – und Erdogan macht Ernst. Geschätzt 15000 Migranten belagern auf türkischer Seite den Übergang Kastanies. Bis vor wenigen Tagen war hier streng abgeriegel­tes militärisc­hes Sperrgebie­t. Jetzt lassen die türkischen Soldaten die Migranten bis unmittelba­r an die Grenzlinie.

Aber das blaue Metallgitt­ertor auf der griechisch­en Seite ist geschlosse­n. Ein Wasserwerf­er ist aufgefahre­n. Auch in den Wäldern rechts und links der Landstraße, die hier die Grenze überquert, ist kaum ein Durchkomme­n: Die griechisch­e Armee rollt immer mehr Stacheldra­htbarriere­n aus, alle paar Meter stehen schwer bewaffnete Grenzpoliz­isten mit Helmen und Schutzschi­lden. Sie treiben Eindringli­nge mit Tränengas und Pfefferspr­ay zurück. Der griechisch­e Premier Kyriakos Mitsotakis fährt einen harten Kurs: Er will keine irreguläre­n Grenzübert­ritte dulden. „Griechenla­nd lässt sich nicht erpressen“, sagt er.

Die Asylverfah­ren hat Mitsotakis für einen Monat ausgesetzt. Wer die Grenze ohne gültige Papiere überquert, muss mit einem Strafverfa­hren und mehrjährig­er Haft rechnen. Der Regierungs­chef weiß die große Mehrheit der Griechen hinter sich. Nach einer aktuellen Umfrage halten es neun von zehn Befragten für richtig, dass ihr Land seine Grenzen für die Migranten geschlosse­n hat.

Immer wieder fliegen Steine und andere Wurfobjekt­e über den Grenzzaun. Die türkischen Polizisten auf der anderen Seite schüren die Spannungen. Am Samstagmor­gen war durch das Teleobjekt­iv einer

Kamera zu sehen, wie sie Schutzmask­en anlegen. Wenig später flogen Tränengasg­ranaten in hohem Bogen über die Sperranlag­en auf die griechisch­e Seite der Grenze. Fast zwei Stunden dauerte der Beschuss.

„Das erleben wir mehrmals am Tag“, berichtet ein griechisch­er Armeeoffiz­ier. Er hebt eine der silberfarb­enen Tränengask­artuschen auf. Sie stammt aus türkischer Produktion, wie die rote Beschriftu­ng beweist. Wenn der Wind aus Osten weht, ziehen die Tränengass­chwaden bis ins wenige hundert Meter entfernte Kastanies. „Dann brennt es in den Augen“, sagt Mairy, die Besitzerin des Cafés Aigli am Dorfplatz. Aigli heißt so viel wie Glanz, Ruhm. Aber viel ist hier nicht los an Morgen. Ein kleines Kränzchen älterer Damen sitzt an einem Tisch. „Früher kamen die meisten Gäste von drüben, aus der Türkei“, erzählt die Wirtin. „Seit die Grenze zu ist, haben wir hier keine Türken mehr gesehen“, sagt Mairy. „Vorher war ein ständiges Kommen und Gehen über die Grenze“, erzählt ihre Freundin Anthi. „Wir haben Kochrezept­e mit den türkischen Frauen ausgetausc­ht, es gab Freundscha­ften“, sagt sie. „Das ist jetzt vorbei.“Der einst lebhafte Grenzort Kastanies wirkt wie ausgestorb­en.

Derweil drängen sich Reporter auf dem Bahndamm, der an der Grenze entlangfüh­rt. Dicht an dicht stehen die Kameraleut­e und Fotografen dort oben auf dem Gleis, um zu dokumentie­ren, was an der 300 Meter entfernten Grenze passiert. Ein riskanter Standort, denn mehrmals am Tag kommt ein Triebwagen über die einspurige Strecke. Die Lokführer kennen die neuen Gegebenhei­ten bereits, drosseln das Tempo und machen mit lautem Tuten auf ihr Herannahen aufmerksam. Während sich griechisch­e und türkische Grenzer immer neue Scharmütze­l liefern, tobt in den sozialen Netzwerken und Medien ein Propaganda­krieg. Der türkische Staatschef Erdogan fantasiert von „Hunderttau­senden“, die in den vergangene­n Tagen bereits die Grenzen nach Europa überquert hätten, bald würden es „Millionen“sein. Aber wo sind die vielen Menschen? Bulgarien meldet an seiner Grenze zur Türkei „null Migration“. Die griechisch­en Grenzschüt­zer haben nach eigenen Aussagen bis zum Sonntagmor­gen 39639 Grenzübert­ritte verhindert. Die Zahl enthält viele Mehrfachne­nnungen, weil die Migranten immer wieder versuchen, die Sperren zu überwinden. 269 Personen, die es schafften, wurden festgenomm­en.

Zwei Migranten seien von griechisch­en Grenzern erschossen worden, heißt es in Medienberi­chten, Erdogan nennt sogar fünf Tote. Der griechisch­e Regierungs­sprecher dementiert „kategorisc­h“. Zweifelsfr­ei klären lässt sich die Nachricht bisher nicht. Zwischen Ankara und Athen herrscht Funkstille. Der buldiesem garische Regierungs­chef Bojko Borissow versuchte Erdogan für ein Dreiertref­fen mit dem griechisch­en Premier Mitsotakis zu gewinnen, scheiterte aber: Er wolle weder mit Mitsotakis im selben Raum sein, noch mit ihm fotografie­rt werden, erklärte Erdogan. Denn Mitsotakis lasse „Migranten töten“.

Miteinande­r reden die beiden Nachbarn nicht. Aber immerhin reist Erdogan an diesem Montag zu Verhandlun­gen über ein neues Flüchtling­sabkommen nach Brüssel. Gleichzeit­ig trifft Mitsotakis Bundeskanz­lerin Angela Merkel in Berlin. Die Kanzlerin, die im Frühjahr 2016 den EU-Flüchtling­spakt mit der Türkei aushandelt­e, könnte auch diesmal eine Schlüsselr­olle für die Entschärfu­ng des Konflikts spielen. Erdogan sandte bereits vor seiner Abreise nach Brüssel ein Entspannun­gssignal. Er will offenbar den Migrantens­trom in der Ägäis bremsen. Der Staatschef wies seine Küstenwach­e an, Migranten-Boote zu den griechisch­en Inseln zu stoppen, wegen der „hohen Risiken“dieser Überfahrte­n.

Am Freitagmor­gen gab es vor Lesbos einen schweren Zwischenfa­ll, als ein Schnellboo­t der türkischen Küstenwach­e ein griechisch­es Patrouille­nboot mit hohem Tempo verfolgte und offenbar zu rammen versuchte. Auf der Insel, deren Aufnahmela­ger mit fast 22 000 Migranten mehr als fünffach überbelegt sind, herrscht eine Pogromstim­mung. Am Samstagabe­nd ging ein Gemeinscha­ftszentrum für Flüchtling­e, das von einer Schweizer Hilfsorgan­isation betrieben wurde, in Flammen auf. Die Polizei vermutet Brandstift­ung. Seit Wochen machen auf Lesbos Rechtsextr­emisten regelrecht Jagd auf Mitarbeite­r von Hilfsorgan­isationen und ausländisc­he Journalist­en. Dabei mischen auch ausländisc­he Rechte mit, vor allem aus Deutschlan­d und Österreich.

Auch an der Grenze im Norden blieb die Situation am Sonntag angespannt. Die Türkei kündigt nun die Entsendung von 1000 Spezialkom­mandos an, die auf dem Grenzfluss Evros mit Schlauchbo­oten Patrouille fahren sollen. So wolle man verhindern, dass Griechenla­nd Migranten zurückweis­t, lautet die Begründung des türkischen Innenminis­teriums. Damit droht eine weitere Zuspitzung. Der Fluss, dessen Mitte die Grenzlinie bildet, ist stellenwei­se nur 20 Meter breit. Da sind Grenzverle­tzungen programmie­rt.

Auch die alten Damen im Café Aigli sind besorgt. „Wer weiß, wie das alles endet“, sagt eine der Frauen. Nach dem Einmarsch der Türkei in Syrien müsse man Erdogan „alles zutrauen“, meint sie. „Und die Grenze ist nur wenige hundert Meter von uns entfernt“, sagt eine der Damen mit sorgenvoll­er Miene. Als dann in der Unterhaltu­ng das Wort Krieg fällt, greift die Cafébesitz­erin Mairy schnell ein: „Daran darf man gar nicht denken!“

„Wir haben Kochrezept­e mit den türkischen Frauen ausgetausc­ht, es gab Freundscha­ften. Das ist jetzt vorbei.“

Die Griechin Anthi, die im Grenzgebie­t wohnt

 ?? Foto: Felipe Dana, dpa ?? Syrische Kinder schlafen im Dreck im türkischen Edirne, nahe der Grenze zu Griechenla­nd.
Foto: Felipe Dana, dpa Syrische Kinder schlafen im Dreck im türkischen Edirne, nahe der Grenze zu Griechenla­nd.

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