Letzter Weckruf für Hollywood
Plötzlich Perspektiven im inzestuösen Gala-Desaster: Mit „Parasite“triumphiert erstmals ein fremdsprachiger Film. Das ist viel mehr ist als eine hübsche Überraschung
Es gibt da diese unvergessliche Szene in Bernardo Bertoluccis Spätwerk „Die Träumer“. Während sich draußen die Welt rasant verändert, liegt das hübsche Trio an Filmvernarrten versteckt in einem Zelt aus Decken im Wohnzimmer, nackt schlafend, ineinander verkeilt. Und als Eva Green, die Frau, zwischen Bruder und Geliebtem erwacht und feststellt, dass dieses Dasein abseits aller Moral nur für sich, für einander und für die große Filmkunst wohl ein Ende haben muss, weil die Eltern zurück sind und sie bereits entdeckt wurden: Da leitet sie mit dem Gartenschlauch Gas aus der Küche ins Wohnzimmer und legt sich wieder zwischen die beiden Männer. Lieber sterben, als die Träume aufgeben! Bis plötzlich ein Stein von draußen durch die Scheibe schlägt, frische Luft und engagierte Rufe von Demonstranten hereindringen. Der Bann ist gebrochen, die Blase geplatzt, das Filmmärchen vorbei: Hinaus mit ihnen in die Welt!
Ein solcher Stein ist nun bei den Oscar-Verleihungen auch durch die Scheibe des altehrwürdigen, morbid charmanten Palais namens Hollywood geflogen. Denn viel hätte nicht gefehlt, und man hätte den Eindruck gewinnen können, dass sich diese Weltmarke des Films, während sich draußen die Welt rasant ändert, langsam zum Sterben bereit macht – teilweise inzestuös in sich selbst verkeilt, aber noch immer schmachtend ob der eigenen großen Vergangenheit. Reif also für jenes Museum, das ja nun tatsächlich, so durfte Tom Hanks bei der Oscarverleihung verkünden, in Los Angeles für den Film im Dezember 2020 eröffnen soll.
Als wäre in den vergangenen Jahren nichts gewesen, als hätte es keine Debatten über die noch immer weiß und männlich dominierten Oscars gegeben – Hollywood feierte am Sonntagabend vor den Augen der Welt eine so lange und aus Zeitgründen wieder ohne festen Moderator so langatmige Nummernrevue, dass in solcher selbstsatten und lebensmüden Dekadenz gar keine Überraschungen mehr zu erwarten waren. Und so wurden dann halt ausnahmslos die Darsteller-Favoriten gekürt: Joaquin Phoenix und Reneé Zellweger, Laura Dern und Brad Pitt – alle längst arriviert und außer Zellweger immerhin bislang noch unprämiert. Phoenix gab dazu den obligatorischen Prediger der Verleihung, diesmal gegen Ausbeutung und für mehr Mitgefühl.
Ansonsten gab’s in den vier Showstunden immer wieder peinliches Witzeln über das eigene Versagen: Wie dramatisch sich die Academy doch verändert habe, bei der Premiere 1929 sei noch kein einziger afroamerikanischer Darsteller nominiert gewesen – jetzt, 2020 aber: einer. Haha. Bloß ging halt auch Cynthia Erivo für „Harriet“ohne Preis aus. Sie durfte lediglich hübsch aussehen und singen und damit neben Auftritten von Eminem und Billie Eilish für ein bisschen Abwechslung sorgen. Wie auch als einzige prominent nominierte Produktion aus Frauenhand Greta Gerwigs „Little Women“praktisch leer ausging und bloß den einen Oscar erhielt: für „Bestes Kostüm“! Unfassbar. Ein Fiasko, ruhe sanft, Hollywood… Dabei hatte sich die das alles wählende Academy mit ihren gut 8000 Mitgliedern doch zuletzt deutlich verjüngt – das Durchschnittsalter liegt nun bei 50 – sowie verweiblicht – die Frauenquote beträgt nun fast genau ein Drittel…
Es hätte jedenfalls gut zu diesem Abend und dem Zustand Hollywoods gepasst, wenn auch noch Quentin Tarantino für seine Filmwelt-Hommage „Once upon a Time in Hollywood“den Regie-Oscar bekommen hätte; und Martin Scorseses vielleicht noch den Oscar für den „Besten Film“– wegen seiner Hommage an sich selbst und seiner immer gleichen Darsteller De Niro,
Pacino, Pesci in einem Mafia-Epos. Erwartet werden konnte auch das vielleicht noch Schlimmere, Sam Mendes für „1917“in beiden Kategorien zu ehren, also mal wieder einen pathetischen, in Teilen ärgerlich kitschigen Kriegsfilm, bloß weil der als fragwürdiges, technisches Kabinettstückchen gedreht wurde, das es ermöglicht, den Ersten Weltkrieg im Sog eines Shooter-Computer-Spiels mitzuerleben.
Aber dann flog eben der Stein. Er kommt aus Südkorea, heißt „Parasite“, ist ein so kluges wie bitterböses Sozialdrama – und bringt hoffentlich frische Luft und engagierte Rufe ins altehrwürdige, morbid charmante Palais, das doch eigentlich nach wie vor beansprucht, das Zentrum der Filmwelt zu sein. Jetzt kommt aber dort die Welt zum Zuge. Denn erstmals gewann mit Bong Joon-hos in nicht-englischsprachiges Werk die Auszeichnung nicht nur als „Bester internationaler Film“, sondern auch die als „Bester Film“– Bong dazu noch den Oscar für „Beste Regie“und „Bestes Originaldrehbuch“… Der Südkoreaner war jedenfalls völlig überrascht und Hollywood irgendwie aus dem Häuschen. Wohl über sich selbst.
Weil: Schau an, dass das auch möglich ist bei uns!
Das wird die Gefahr jetzt sein: Dass wie in Sachen weiß und weiblich, das, was wie das Signal einer Öffnung wirkt, bloß ein Strohfeuer bleibt und sich letztlich nichts ändert bei den Oscars und in Hollywood. Die Beharrungskräfte scheinen riesig – die Herausforderungen sind es freilich auch: einen globalen Filmmarkt abzubilden, die Diversität der Gesellschaft, einen Weg für den Umgang mit den Produktionen der Streaming-Dienste zu finden! Da gingen übrigens mit Scorseses „The Irishman“und Noah Baumbachs „Marriage Story“die diesjährigen prominent nominierten Kandidaten nahezu leer aus (bis auf Laura Dern aus dem Scheidungsdrama). Bei all dem will man ja auch nicht, dass nach Quote entschieden wird, sondern nach Qualität! Insofern hat es Bong Joon-ho mit seinem „Parasite“der Academy noch relativ leicht gemacht. Der ist eine Wucht! Aber das war ja eigentlich auch schon 2019 Alfonso Cuarons „Roma“, für den die Academy noch nicht die Traditionen brechen mochte, vielleicht auch, weil er fremdsprachig und noch dazu von Netflix war.
Künftig muss nach diesem Stein, diesem Weckruf noch viel mehr möglich sein. Zum Beispiel hätte der vielleicht beste Antonio Banderas, der je zu sehen war und sein wird, für seine Darstellung im spanischen Film „Leid und Herrlichkeit“als „Bester Hauptdarsteller“prämiert werden können. Dazu auch Darsteller aus „Parasite“. Man darf gespannt sein, zu was Hollywood, die Traumfabrik, in der Lage sein wird.
In Bertoluccis „Die Träumer“reißt Eva Green nach dem Steineinschlag die Fenster auf, wickelt den Schlauch heimlich zurück in die Küche, von draußen dröhnt plötzlich das pulsierende Leben herein. Es ist 1968 in Paris. Als ihre beiden Männer aufwachen und fragen, was los sei und was hier so stinke, sagt sie nichts vom Gas, mit dem eben noch alles enden sollte, sondern: Das komme alles von draußen – „die Straße ist zu uns gekommen“. Es ist, als wäre der mögliche Tod bloß Teil einer Filmfantasie gewesen.
50 Jahre liegt auch die letzte Revolution in Hollywood zurück: „New Hollywood“. Jetzt, wo dessen Helden wie Scorsese und deren Verehrer wie Tarantino selbst die großen Alten sind, ist Zeit für ein neues Erwachen, ein neues „New Hollywood“. Aber ohne „America First“.
Das wäre doch was: spannende Oscars!
Der einzig nominierte Film von einer Frau gewinnt nur den Oscar für Kostüme…