Giftattacke: Warum verging so viel Zeit?
In einer dramatischen Nacht im Uniklinikum Ulm gerieten fünf Babys in Lebensgefahr. Doch bis zur Strafanzeige dauerte es vier Wochen. Die Klinik zieht Konsequenzen
Ulm Der Fall der fünf mit Morphin vergifteten Babys im Universitätsklinikum Ulm bewegt viele Menschen – und sorgt weltweit für Schlagzeilen. Sogar die New York Times hat darüber berichtet. Doch die Ermittler stehen wieder ganz am Anfang. Denn eine Krankenschwester, die als Hauptverdächtige verhaftet worden war, musste wieder freigelassen werden. Sie war aufgrund einer Laborpanne im LKA ins Visier der Polizei geraten. Das Uniklinikum Ulm ist derweil um Schadensbegrenzung bemüht und wirbt um Vertrauen.
Denn viele fragen sich: Warum hat es eigentlich so lange gedauert, bis die Polizei eingeschaltet wurde? Die fünf Neugeborenen hatten in der Nacht zum 20. Dezember auf einer Überwachungsstation der Ulmer Kinderklinik lebensbedrohliche Atemprobleme bekommen. Wie sich später herausstellte, war den Kindern das Betäubungsmittel Morphin verabreicht worden. Am 17. Januar stellte das Klinikleitung Strafanzeige gegen unbekannt. Es vergingen also vier Wochen. Weshalb, das erläuterte Professor Udo X. Kaisers, der Vorstandsvorsitzende des Universitätsklinikums.
„Niemand hat im Kopf gehabt, dass das eine Opiatvergiftung sein könnte“, sagte er gegenüber unserer Redaktion. „Wir gehen, wenn wir Patienten behandeln, primär nicht von Straftaten aus.“Es habe sich am 20. Dezember zunächst um eine „ganz gewöhnliche Nachtschicht“gehandelt. Sechs Neugeborene waren im Zimmer. Alle waren stabil, auch die fünf Babys, die plötzlich gleichzeitig Atemprobleme bekamen. Die Ärzte gingen zunächst von einem Infekt aus. Klinikleitung, Krankenhaushygiene, Mikrobiologie und Virologie wurden hinzugezogen. Das Zimmer wurde geräumt und gereinigt. Die Kinder kamen auf die Intensivstation, drei mussten beatmet werden.
Nach 48 Stunden waren die Babys wieder stabil. Bei keinem weiteren Kind in der Klinik sei ein ähnlich ungewöhnlicher Krankheitsverlauf beobachtet worden. Weil die Untersuchungen auf Bakterien und Viren nichts ergaben, entschloss sich die Klinik am 23. Dezember, den Babys Urinproben zu entnehmen und in die Ulmer Rechtsmedizin zu schicken. Nicht, weil der Verdacht auf ein Verbrechen bestand. Sondern, weil das Institut die einzige Einrichtung am Uniklinikum ist, die ein umfassendes toxikologisches Screening für mehr als 8000 Stoffe vornehmen kann. Laut Klinikum wurde beispielsweise nach Stoffen aus Nahrungsbestandteilen gesucht, die bei den Neugeborenen Atemnot verursacht haben könnten. Dass die Untersuchungen etwa zwei bis drei Wochen dauern würden, sei bekannt gewesen.
Die Ergebnisse der Laboruntersuchungen wurden am 8. Januar in das interne Klinikinformationssystem eingestellt. „Zu diesem Zeitpunkt war der Fall medizinisch abgeschlossen“, sagte Professor Kaisers. Denn die Kinder seien bis auf eines bereits nach Hause entlassen gewesen. Aus Sicht des Instituts für Rechtsmedizin seien die Ergebnisse zudem nicht ungewöhnlich gewesen, da die Kinder intensivmedizinisch behandelt wurden – und bei Säuglingen, die beatmet werden müssen, wird häufig Morphin eingesetzt. Als die Mitarbeiter der Kinderklinik die Befunde am 15. Januar abriefen, waren sie allerdings höchst alarmiert. Denn sie stellten fest, dass alle fünf Babys Morphin im Urin hatten, obwohl nur drei von ihnen intubiert worden waren. Am nächsten Tag richtete die Klinikleitung eine Task Force ein, dann stellte sie Strafanzeige. Inzwischen konnten alle betroffenen Kinder die Klinik verlassen. Die sechs Frauen, die in der Tatnacht auf der Überwachungsstation Dienst hatten, sind weiter freigestellt.
Vor dem Hintergrund der Ereignisse hat die Uniklinik zum Schutz der Patienten mehrere Sofortmaßnahmen getroffen. So wurden die Kontrollen für den Zugang zu Betäubungsmitteln verschärft. Auch in die Milchküchen darf nicht mehr jeder. Außerdem sollen ab sofort bei Patienten mit ungewöhnlichem Verlauf routinemäßig Urinproben untersucht werden, inklusive einem gezielten Drogenscreening. Der Sicherheitsdienst geht zudem häufiger auf Streife als bisher.
Zunächst gab es keinen Verdacht auf eine Straftat