Neuburger Rundschau

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (25)

-

Er stockt plötzlich, als hätte er sich verplapper­t, und wirft einen erschrocke­nen Blick auf mich, aber nur den Bruchteil einer Sekunde lang.

Warum?

Aha, du hast den Haken schon im Maul gehabt, hast es dir aber wieder überlegt.

Du wolltest schon anbeißen, da merktest du die Schnur. Jetzt schwimmst du in dein Meer zurück.

Du hängst noch nicht, aber du hast dich verraten.

Warte nur, ich fange dich! Er erhebt sich: „Ich muß jetzt heim, das Essen wartet, und wenn ich zu spät komm, krieg ich einen Krach.“

Er bedankt sich für das Eis und geht.

Ich sehe ihm nach und höre das Mädchen schreien.

Einundreiß­igstes Kapitel Fahnen

Als ich am nächsten Tage erwache,

wußte ich, daß ich viel geträumt hatte.

Ich wußte nur nicht mehr, was. Es war ein Feiertag.

Man feierte den Geburtstag des Oberplebej­ers.

Die Stadt hing voller Fahnen und Transparen­te.

Durch die Straßen marschiert­en die Mädchen, die den verscholle­nen Flieger suchen, die Jungen, die alle Neger sterben lassen, und die Eltern, die die Lügen glauben, die auf den Transparen­ten stehen. Und die sie nicht glauben, marschiere­n ebenfalls mit.

Divisionen der Charakterl­osen unter dem Kommando von Idioten. Im gleichen Schritt und Tritt.

Sie singen von einem Vögelchen, das auf einem Heldengrab­e zwitschert, von einem Soldaten, der im Gas erstickt, von den schwarzbra­unen Mädchen, die den zu Hause gebliebene­n Dreck fressen, und von einem Feinde, den es eigentlich gar nicht gibt.

So preisen die Schwachsin­nigen und Lügner den Tag, an dem der Oberplebej­er geboren ward.

Und wie ich so denke, konstatier­e ich mit einer gewissen Befriedigu­ng, daß auch aus meinem Fenster ein Fähnchen flattert.

Ich habe es bereits gestern abend hinausgehä­ngt.

Wer mit Verbrecher­n und Narren zu tun hat, muß verbrecher­isch und närrisch handeln, sonst hört er niemals auf.

Mit Haut und Haar.

Er muß sein Heim beflaggen, auch wenn er kein Heim mehr hat.

Wenn kein Charakter mehr geduldet wird, sondern nur der Gehorsam, geht die Wahrheit, und die Lüge kommt.

Die Lüge, die Mutter aller Sünden.

Fahnen heraus!

Lieber Brot als tot!

So dachte ich, als es mir plötzlich einfiel: was denkst du da?

Hast du es denn vergessen, daß du vom Lehramt suspendier­t bist?

Du hast doch keinen Meineid geschworen und hast es gesagt, daß du das Kästchen erbrochen hast. Häng nur deine Fahne hinaus, huldige dem Oberplebej­er, krieche im Staub vor dem Dreck und lüge, was du kannst – es bleibt dabei!

Du hast dein Brot verloren! Vergiß es nicht, daß du mit einem höheren Herrn gesprochen hast!

Du lebst noch im selben Haus, aber in einem höheren Stock.

Auf einer anderen Ebene, in einer anderen Wohnung.

Merkst du es denn nicht, daß dein Zimmer kleiner geworden ist? Auch die Möbel, der Schrank, der Spiegel.

Du kannst dich noch sehen im Spiegel, er ist immer noch groß genug – gewiß, gewiß! Du bist auch nur ein Mensch, der möchte, daß seine Krawatte richtig sitzt. Doch sieh mal zum Fenster hinaus!

Wie entfernt ist alles geworden! Wie winzig sind plötzlich die großen Gebieter und wie arm die reichen Plebejer! Wie lächerlich!

Wie verwaschen die Fahnen! Kannst du die Transparen­te noch lesen?

Nein.

Hörst du noch das Radio? Kaum.

Das Mädchen müßte gar nicht so schreien, damit sie es übertönt. Sie schreit auch nicht mehr. Sie weint nur leise.

Aber sie übertönt alles.

Zweiundrei­ßigstes Kapitel Einer von fünf

Ich putz mir gerade die Zähne, als meine Hausfrau erscheint.

„Es ist ein Schüler draußen, der Sie sprechen möcht.“

„Einen Moment!“

Die Hausfrau geht, und ich ziehe meinen Morgenrock an.

Ein Schüler?

Was will er?

Ich muß an den T denken. Den Morgenrock hab ich zu Weihnachte­n bekommen. Von meinen Eltern. Sie sagten schon immer: „Du kannst doch nicht ohne Morgenrock leben!“

Er ist grün und lila.

Meine Eltern haben keinen Farbensinn.

Es klopft.

„Herein!“

Der Schüler tritt ein und verbeugt sich.

Ich erkenne ihn nicht sogleich – richtig, das ist der eine B!

Ich hatte fünf B’s in der Klasse, aber dieser B fiel mir am wenigsten auf. Was will er? Wie kommt es, daß er draußen nicht mitmarschi­ert?

„Herr Lehrer“, beginnt er, „ich hab es mir lange überlegt, ob es vielleicht wichtig ist – ich glaube, ich muß es sagen.“

„Was?“„Es hat mir keine Ruh gelassen, die Sache mit dem Kompaß.“

„Kompaß?“

„Ja, ich hab es nämlich in der Zeitung gelesen, daß bei dem toten N ein Kompaß gefunden worden ist, von dem niemand weiß, wem er gehört.“

„Na und?“

„Ich weiß, wer den Kompaß verloren hat.“

„Wer?“

„Der T.“

Der T?! durchzuckt es mich. Schwimmst du wieder heran? Taucht dein Kopf aus den finsteren Wassern auf – siehst du das Netz?

Er schwimmt, er schwimmt. „Woher weißt du es, daß der Kompaß dem T gehört?“frage ich den B und befleißige mich, gleichgült­ig zu scheinen.

„Weil er ihn überall gesucht hat, wir schliefen nämlich im selben Zelt.“

„Du willst doch nicht sagen, daß der T mit dem Mord irgendwas zu tun hat?“

Er schweigt und blickt in die Ecke. Ja, er will es sagen.

„Du traust das dem T zu?“Er sieht mich groß an, fast erstaunt. „Ich traue jedem alles zu.“„Aber doch nicht einen Mord!“„Warum nicht?“

Er lächelt – nein, nicht spöttisch. Eher traurig.

„Aber warum hätte denn der T den N ermorden sollen, warum? Es fehlt doch jedes Motiv!“

„Der T sagte immer, der N sei sehr dumm.“

„Aber das war doch noch kein Grund!“»26. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany