„Ich verteidige nicht die Tat, sondern den Täter“
Andrea Kremer und Petra Schleer-Leitmayr sind Anwältinnen. Die eine hat kein Problem damit, sich zum Beispiel für die Rechte eines Sexualverbrechers einzusetzen, die andere schon. Warum das so ist
Polizisten, Angestellte in Justizvollzugsanstalten, Richter, (Staats-)Anwälte – sie alle beschäftigen sich tagtäglich mit dem Thema „Kriminalität“. Sie setzen sich für Sicherheit und Gerechtigkeit in unserem Land ein. Allerdings wird ihnen zunehmend weniger Respekt entgegengebracht. Und auch das subjektive Sicherheitsempfinden der Bevölkerung sinkt. Wir haben diese Behörden besucht und Menschen getroffen, die dort arbeiten. In der heutigen Folge sprechen die zwei Anwältinnen Petra Schleer-Leitmayr und Andrea Kremer über ihre Arbeit. Neuburg/Ingolstadt Die Beweislage schien eindeutig: Eine Frau wirft ihrem ehemaligen Lebensgefährten vor, sie vergewaltigt zu haben. Sie zeigt ihn an, der Fall geht vor Gericht. Andrea Kremer, Fachanwältin für Strafrecht in Ingolstadt, übernimmt die Verteidigung des Mannes. „Laut Akte war die Anschuldigung der Frau völlig glaubwürdig“, erzählt Kremer. Doch der Mann streitet den Vorwurf vehement ab. Er sei unschuldig, betont er immer wieder. Kremer durchforstet die Beweise und findet plötzlich doch noch einen Hinweis darauf, dass die Frau lügt. Der Mann wird vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen, stattdessen gibt es ein Verfahren gegen seine Ex-Freundin.
„An diesem Fall bin ich gewachsen“, sagt Kremer. „Und er hat mir gezeigt, dass man sich nicht so sehr von seinem ersten Eindruck leiten lassen sollte.“Die 44-Jährige ist seit 2002 als Strafverteidigerin tätig. Sie befasst sich zum Beispiel mit Flüchtlings- und Tötungsdelikten, Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz und die Straßenverkehrsordnung, außerdem mit Sexualstraftaten. Hartnäckigkeit, eine gute Menschenkenntnis, Geduld und auch ein bisschen Streitlust seien Eigenschaften, die ihr dabei zugutekämen, erzählt die Anwältin.
Seit Beginn ihrer Karriere hat Kremer viel an Erfahrung gewonnen. Wenn sie einen Fall annimmt, unterscheidet sie zwischen zwei Kategorien, geht einen von zwei Wegen, den im Grunde der Mandant vorgibt: Entweder der Angeklagte ist voll geständig – dann versucht die Anwältin, ein möglichst mildes Urteil zu erreichen. Oder der Angeklagte gibt an, er habe die Tat nicht begangen. Kategorie zwei findet Kremer deutlich schwieriger zu verteidigen. „Wenn ich weiß, dass ein Mandant unschuldig ist, stehe ich viel stärker unter Druck. Denn wenn ich mei- nen Job nicht richtig mache, geht dieser Mensch zu Unrecht ins Gefängnis.“Bei einem Geständigen gehe es hingegen einfach darum, dass rechtsstaatliche Prinzipien eingehalten werden, erklärt die Anwältin, die ursprünglich aus Pfaffenhofen kommt. „Ich verteidige nicht die Tat, sondern den Täter! Ich bin deshalb nicht der Meinung, dass die Tat in Ordnung ist oder beschönige sie.“Dies würde in der Gesellschaft aber oft fehlinterpretiert, kritisiert Kremer. Bekannte fragten sie oft: „Wie kannst du nur?“Dabei seien Strafverteidiger ein wesentliches Organ der Rechtspflege, erklärt die 44-Jährige. „Wir tragen dazu bei, dass der Rechtsstaat funktioniert. Sonst landen wir wieder im Mittelalter bei der Inquisition.“Folglich hat sie auch kein Problem damit, einen Sexualstraftäter zu verteidigen. Bei Fällen, in denen das Geschlecht eine Rolle spielt, könnten die Angeklagten – auch dann, wenn ihnen ein Pflichtverteidiger gestellt wird – wählen, ob sie einen Mann oder eine Frau möchten, erläutert Kremer. Sie rate allerdings jedem Mann dazu, sich für eine Frau zu entscheiden. Als Frau dürfe sie ein weibliches Opfer im Zeugenstand ganz anders befragen, als das ein männlicher Kollege dürfte. „Männer haben hier oft Beißhemmung.“
Die Neuburgerin Petra SchleerLeitmayr, Tochter des ehemaligen Richters Wilfried Schleer, ist da anderer Meinung. Sie ist seit 25 Jahren Anwältin und musste in jungen Jahren einen Mann verteidigen, der minderjährige Mädchen missbraucht hatte. Dieser Fall blieb der heute 52-Jährigen stark im Gedächtnis. „Das würde ich nicht mehr machen. Der Mann war ekelhaft und schmutzig.“Der Fall wurde damals vor dem Landgericht Ingolstadt verhandelt, wo auch Kremer ein und aus geht. Inzwischen ist Schleer-Leitmayr vor allem am Amtsgericht Neuburg tätig, wo es um weniger gravierende Taten geht. Sie arbeitet zwar nach wie vor als Wahl- und Pflichtverteidigerin in Strafsachen, ihr Schwerpunkt liegt jedoch auf dem Familienrecht. Wie ihre Ingolstädter Kollegin, muss sich auch die Neuburgerin auf ihre Menschenkenntnis verlassen können, denn so mancher Angeklagte versuche durchaus, seinen Anwalt zu belügen. Eine schlechte Entscheidung, findet Schleer-Leitmayr. „Ich empfehle immer, zu reden. Wenn ich etwas gemacht habe, muss ich auch dafür geradestehen.“Außerdem wirke sich ein Geständnis positiv auf das Urteil aus. Käme ein Schuldiger durch ihre Verteidigung mit einem Freispruch davon, fände die Neuburgerin das bei einer Kleinigkeit durchaus okay. Aber: „Wenn ein Mörder, den ich vertreten habe, freigesprochen würde, könnte ich das nicht verantworten.“
Über sinkenden Respekt können sich die beiden Frauen wenig beklagen. Angst haben mussten sie noch nie. Schließlich seien ihre Mandanten auf ihre Hilfe angewiesen. Schleer-Leitmayr sagt allerdings, dass sie durchaus schon von dem ein oder anderen wütenden (Ex-)Ehemann in Familiensachen beschimpft worden sei. Einer habe sich sogar mal solange vor ihrer Kanzlei herumgetrieben, bis die Polizei kam. Kremer meint, dass der Respekt ihr gegenüber mit zunehmendem Alter und einem damit einhergehenden selbstbewussteren Auftreten eher gestiegen sei. Was ihr allerdings aufund missfällt, ist, dass der Respekt in Gerichtssälen zu leichtfertig aus der Hand gegeben werde. Angeklagte kämen immer öfter damit durch, wenn sie beispielsweise zu lässig gekleidet sind. „Hier wünsche ich mir, dass wieder härter durchgegriffen wird.“