Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (62)
Ich weiß noch, dass mich eine grenzenlose Müdigkeit überkam, eine regelrechte Lethargie angesichts dieses heillosen Durcheinanders.
Es war so, als müsste man im Zustand geistiger Erschöpfung eine kniffelige Mathematikaufgabe lösen – man weiß, dass es irgendwo in weiter Ferne eine Lösung gibt, aber man bringt nicht mal so viel Energie auf, um wenigstens einen Ansatz zu versuchen. Irgendetwas in mir gab einfach auf, und eine Stimme sagte: Na gut, soll er doch das Allerschlimmste denken. Soll er nur, soll er nur. Und wahrscheinlich sah ich ihn resigniert an, mit einer Miene, die sagte: Ja, es stimmt, was hast du denn erwartet? Und noch heute erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen, an Tommys Gesicht, in dem der Zorn für einen Moment zurücktrat und einem Ausdruck des Erstaunens wich, als wäre ich ein seltener Schmetterling, den er zufällig auf einem Zaunpfosten entdeckt hatte.
Es war nicht so, dass ich gleich in
Tränen ausgebrochen wäre oder sonstwie die Beherrschung verloren hätte – nichts dergleichen. Aber ich sah keine andere Möglichkeit, als mich einfach umzudrehen und zu gehen.
Noch am selben Tag wurde mir klar, dass dies der schlimmste Fehler gewesen war. Zu meiner Rechtfertigung kann ich nur anbringen, dass ich mehr als alles andere fürchtete, einer der beiden könnte mir zuvorkommen, könnte vor mir gehen, und ich wäre dann mit dem Zurückgebliebenen allein. Ich weiß nicht, warum, aber ich war sicher, dass von uns dreien nur einer davonstürmen konnte, und zwar ich. Also drehte ich mich wortlos um und ging den Weg zurück, den ich gekommen war, vorbei an den Grabsteinen und durch das hölzerne Tor, und ein paar Minuten lang schien es mir so, als hätte ich gewonnen; als hätte sie jetzt, wo sie miteinander allein waren, das Schicksal ereilt, das sie sich gründlich verdient hatten.
Kapitel 17
Wie ich schon sagte – erst lange danach, als ich schon längst nicht mehr in den Cottages lebte, wurde mir bewusst, wie bedeutsam diese kurze Begegnung auf dem Friedhof gewesen war. Im ersten Moment war ich verstört, gewiss. Dennoch glaubte ich damals nicht, dass es diesmal anders wäre als bei unseren sonstigen Kabbeleien. Nie hätte ich gedacht, dass wir, die wir bis dahin eine so unauflösliche Einheit gebildet hatten, uns wegen so etwas entzweien könnten.
Aber in Wahrheit, glaube ich, waren schon seit einer ganzen Weile starke Strömungen am Werk, die uns voneinander forttrieben, und es hatte nur noch eines letzten Windstoßes gebraucht, um uns voneinander zu trennen. Hätten wir das damals schon begriffen – wer weiß?, vielleicht hätten wir einander nicht so leicht losgelassen.
Es fing schon damit an, dass immer mehr Kollegiaten fortgingen, um Betreuer zu werden, und innerhalb unserer alten Hailshamer Gruppe griff das Gefühl um sich, dies sei der natürliche Lauf der Dinge. Zwar hatten wir alle noch nicht unsere Aufsätze geschrieben, aber uns war klar, dass dies nicht weiter von Bedeutung wäre, wenn wir uns entschieden, mit der Ausbildung anzufangen. In unserer ersten Zeit in den Cottages war die Idee, unsere Aufsätze nicht zu beenden, unvorstellbar gewesen. Doch je ferner uns Hailsham war, desto mehr rückten auch diese Essays in den Hintergrund. Damals hatte ich die Vorstellung – zu Recht wahrscheinlich, dass die Bande, die uns HailshamKollegiaten zusammenhielten, zusehends schwächer würden, je mehr uns das Gefühl für die Wichtigkeit unserer Aufsätze abhanden kam. Deshalb versuchte ich eine Zeit lang, unsere Begeisterung für eifriges Lesen und Exzerpieren wach zu halten. Aber da einerseits nichts dafür sprach, dass wir je unsere Aufseher wieder sähen, und andererseits jetzt so viele Kollegiaten fortgingen, erschien es uns bald ganz aussichtslos.
In den ersten Tagen nach dem Gespräch auf dem Friedhof bemühte ich mich jedenfalls sehr, den Vorfall vergessen zu machen. Sowohl Tommy wie Ruth gegenüber benahm ich mich, als wäre nichts Besonderes vorgefallen, und sie hielten es mehr oder weniger genauso. Aber es hatte sich etwas verändert, und das nicht nur zwischen mir und ihnen. Obwohl sie immer noch sehr ihre Beziehung hervorkehrten – nach wie vor war das Arm Antippen ihre Abschiedsgeste –, kannte ich sie gut genug, um zu bemerken, dass sie sich ziemlich auseinander gelebt hatten.
Natürlich war mir bei alldem nicht wohl, vor allem wegen Tommys Tieren. Aber jetzt konnte ich nicht mehr einfach zu ihm gehen, sagen, dass es mir Leid tat, und ihm erklären, wie es wirklich gewesen war. Ein paar Jahre, ja noch sechs Monate früher wäre das vielleicht die Lösung gewesen: Tommy und ich hätten die Sache besprochen und wieder ins Lot gebracht. Aber in diesem zweiten Sommer war alles anders. Vielleicht wegen meiner kurzen Beziehung mit Lenny, ich weiß es nicht. Jedenfalls war es nicht mehr so leicht, mit Tommy zu reden. An der Oberfläche hatte sich nicht viel verändert, aber wir sprachen nie mehr von seinen Tieren oder von dem Vorfall auf dem Friedhof. Das also war der Stand der Dinge, als ich mit Ruth in dem alten Bushäuschen saß und mich plötzlich so sehr darüber ärgerte, dass sie tat, als hätte sie das Rhabarberbeet in Hailsham vergessen. Wie ich schon sagte, ich wäre wahrscheinlich nicht halb so sauer geworden, wäre es nicht mitten in einem so wichtigen Gespräch passiert. Gut, das Wesentliche hatten wir schon besprochen, aber selbst wenn die Anspannung jetzt allmählich nachließ und wir nur noch plauderten, gehörte auch dies zu unserem Versuch, wieder miteinander ins Reine zu kommen. Für bloßes Getue war jetzt einfach nicht die Zeit. Folgendes war geschehen. Mit meinem Verhältnis zu Ruth war es noch nicht ganz so weit gekommen wie mit dem zu Tommy – das bildete ich mir wenigstens ein , und daher wollte ich mit ihr über den Vorfall auf dem Friedhof reden. Wir hatten einen dieser Sommertage mit Regen und Gewittern hinter uns und hatten den ganzen Tag nicht das Haus verlassen, obwohl es drinnen klamm und feucht war. Als es dann abends aufzuklaren begann und der Sonnenuntergang den Himmel purpurn färbte, schlug ich Ruth vor, ein bisschen an die frische Luft zu gehen. Kurz zuvor hatte ich einen steilen Fußweg entdeckt, der aus dem Tal hinausführte, und dort, wo er oben in die Straße mündete, stand ein aufgelassenes Bushäuschen. Die Busse fuhren schon längst nicht mehr, das Schild, das eine Haltestelle anzeigt, fehlte, und an der Rückwand des Bushäuschens war nur noch ein leerer Rahmen, wo früher hinter Glas der Fahrplan gewesen war. Aber der Unterstand selbst, der einer liebevoll gezimmerten Holzhütte glich und auf der Seite zu den ins Tal abfallenden Wiesen offen war, stand noch, und sogar die Bank darin war noch zu gebrauchen.