Die Welt ist ein guter und fröhlicher Ort
„Das Kind träumt“als eine packende Tragödie von antikem Ausmaß – und wohl auch als das Stück der Zukunft
Die Welt ist ein guter und fröhlicher Ort, ich empfehle ihn allen, ich empfehle jenen, die noch nicht geboren sind, beeilt euch, geboren zu werden: Ihr werdet es nicht bereuen!
Vater, Mutter, danke für die Geburt!
Das Kind, das diese schwärmerisch-altklugen Zeilen spricht, weiß noch nicht, was in den nächsten Momenten, in den nächsten Stunden, in den nächsten Tagen passieren wird:
Dass vor seinen Augen der Vater in kriegsähnlichen Umständen ermordet wird. Dass vor seinen Augen die Mutter ihren Unterleib einem Schiffskapitän andienen muss, um die Chance auf Rettung der nackten Haut durch Flucht übers Meer zu wahren. Dass man dort, wo Mutter und Kind anlanden, Flüchtlinge umgehend zurückschickt. Dass eine Rettung eventuell dennoch möglich ist, aber um den Preis, dass das Kind sich von der Mutter trennt. Dass es, das Kind, sterben wird. (Falls alles nicht nur ein Albtraum bleibt.)
Der israelische Dramatiker Hanoch Levin (1943–1999) hat diese Tragödie mit monströser Fallhöhe unter dem Titel „Das Kind träumt“verfasst. Eine Tragödie von antikem Ausmaß – streng, dicht, beispielgebend formbewusst, so gradlinig wie wuchtig in Sprache und Aussage. Die Lektüre des – wohlgemerkt – 1993 geschriebenen Werks, das im hebräischen Original sogar die Mittel des scheinbar überkommenen Reims nutzt, beeindruckt über die Maßen. Es liegt auf Niveau und Wellenlänge des deutschen Apokalyptikers Heiner Müller; und wenn Luigi Nono 1993 noch gelebt hätte, dann hätte man ihm diese archetypische Tragödie zusenden müssen, weil sie für ihn zweifellos infrage gekommen wäre zur Vertonung.
Nun hat das Werk, das in seinen vier Teilen jeweils in ein Requiem mündet, das Theater Augsburg auf seiner Brechtbühne als deutschsprachige Erstaufführung herausgebracht. In einer Epoche weltweit zunehmender Flüchtlingsströme könnte es 24 Jahre nach seiner Entstehung nicht zu einem „Stück der Stunde“werden, sondern zu einem Stück der Zukunft. Mit ihm nimmt das Schauspiel Augsburg und seine Programmatik Fahrt auf – auch wenn man sich die Inszenierung von Antje Thomas im kargen Bühnenbild von Lea Dietrich noch stärker an die Nieren gehend vorstellen könnte, weil es gar nicht so viel (illustrierendes) Spiel bräuchte, wenn das Wort an sich schon packt. Weil in existenziellen Dingen die trockene, lakonische, fatalistische Aussage viel zuverlässiger angreift und trifft als die gewagt-äußerliche Vorführung inneren Erlebens. Am besten schafft das Andrej Kaminsky in seinen drei Rollen unberechenbarer Macht: Kommandant, Flüchtlingsboot-Kapitän, Insel-Herrscher. Seine Laune kann Leben retten – oder Leben töten. Jedes Lächeln von ihm im Grunde ein Hinterhalt. Wenn er mild wird, wird er eklig. Wenn er argumentiert, wird er perfid. Das besitzt dämonisches Gewicht.
Die schwerste Rolle aber dieses Stücks, das die lange Theaterreihe fortsetzt, wonach der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, diese schwerste Rolle hat Natalie Hünig zu tragen. Sie hat überzeugend zu reagieren auf die Ermordung ihres Mannes, auf die körperlichen Begierden des Kapitäns, auf den Tod ihres Kindes. Drei Traumata in einem Leben, dreimal höchster Anspruch, höchste Zumutung auf der Bühne. Hünig, gezielt besetzt für diese Aufgabe, gelingt sehr viel: eine Identifikationsfigur. Und doch überlegt man sich auch: Müsste diese Mutter angesichts der Erlebten nicht zunehmend in Trance agieren, erlöschen, versteinern, gar brechen? Sie erfährt im „Schutzraum“Familie den Nihilismus. Und ihr Kind (Zakaria Ünlü in einer weiteren Rolle von Zumutung) staunt mit heller, klarer Stimme über die Mechanismen dieser Welt.
Dass Patrick Rupar (u. a. Vater) und Daniel Schmidt (u. a. Beamter der Einwanderungsbehörde) einen triftigen Ton anschlagen, stützt den Abend; dass Katharina Rehn mehr uneigentlich als eigentlich spielt, nicht so sehr. Insgesamt aber gilt: Diese Produktion besitzt Eindringlichkeit.
ONächste Aufführungen: 17., 25., 26. Januar, 16., 22., 23. Februar