Geisterstunde im Unterholz
Natur Am Wegesrand spielt sich derzeit ein bizarres Naturschauspiel ab – Bäume und Sträucher sind eingesponnen und die Blätter abgefressen. Was sich hinter dem Phänomen verbirgt und ob davon Gefahr ausgeht
Es sieht aus wie an Halloween. Büsche, Sträucher, teils ganze Bäume stehen da wie im Gruselfilm: eingesponnen, abgefressen – fahles Grau statt frischem Grün, übrig oft nur ein „Gerippe“aus Ästen. Dabei haben wir nicht Oktober, sondern Mai, alles sollte blühen und gedeihen. Verantwortlich für den Spuk sind jedoch weder Geister noch Gespenster, nicht einmal Spinnen als vermeintlich Verdächtige. Auch wenn der Name so ähnlich klingt: Es sind Gespinstmottenraupen, die hier ihr Unwesen treiben.
„Das sieht wirklich fürchterlich aus“, sagt Seminarförster Alfred Hornung, der für gewöhnlich selbst den ungewöhnlichsten Naturphänomenen etwas abgewinnen kann. Wie der Verhüllungskünstler Christo verpacken die Maden der Gespinstmotte, die auf den wissenschaftlichen Namen Yponomeuta hört, im späten Frühjahr landauf landab vorwiegend Traubenkirschen, Weißdorn und Pfaffenhütchen. Auch Weiden und Pappeln sind bisweilen mit einem dichten, silbrig glänzenden Gespinst überzogen.
Ausgewachsen sehen die Insekten durchaus ansehnlich aus: Weiße pfeilförmige Falter, nachtaktiv, die Flügel geschmückt mit schwarzen Punkten. Bis es soweit ist, hat das Spektakel jedoch höchstens künstlerischen Wert: Wie die Maden aus den Eiern schlüpfen, in Kolonien ihren Kokon wie Schleier um Pflanzen und Blätter bauen, sich von ihnen ernähren und ihre Lebensstadien zu einer spektakulären Verhüllungsaktion werden lassen. Einige von ihnen werden immer Raupen bleiben, ihre Lebensaufgabe besteht darin, das Überleben der anderen zu sichern: Sie sind ständig damit beschäftigt, Löcher im Kokon zu flicken, der sie vor Regenwasser, Schlupfwespen und Vogelschnäbeln schützt, damit ihre Artgenossen die geheimnisvolle Metamorphose zum weißen Schmetterling vollziehen können.
Wer sich so aufopferungsvoll um Nächsten kümmert, kann der den Tod der Pflanzen verantworten, die ihm das Leben ermöglichen? Natürlich nicht. „Die Natur macht sich nicht gegenseitig kaputt“, weiß Hornung. Nachdem die Verwandlung abgeschlossen und die Insekten Juli zu Himmelsstürmern geworden sind, verwittert das Gespinst und der Spuk löst sich in Nichts auf. Anschließend treiben die Bäume und Sträucher erneut aus, als sei nie etwas gewesen.
Wiederholt hätten sich bereits beseine sorgte Bürger beim Seminarförster erkundigt und gefragt, ob von den befallenen Pflanzen Gefahr ausgehe. Sobald sie etwas Gesponnenes an Bäumen entdeckten, würden bei vielen reflexhaft Assoziationen an den Eichenprozessionsspinner geAnfang weckt, dessen Flimmerhaare gefährlich sind. Im Gegensatz zur Gespinstmotte. Sie braucht man weder zu fürchten noch zu entfernen oder gar mit chemischen Mitteln zu bekämpfen. Lediglich ihre Kunst bestaunen, das ist angemessen.