Paul Auster: Die Brooklyn Revue (33)
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzung von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
So suchte Marinas Mann nach einem abschließenden Hin und Her von Drohungen und Gegendrohungen dann endlich das Weite. Der Idiot hatte seine Frau um ihren Job gebracht. Aber was für mich noch schwerer wog - sehr viel schwerer: Ich würde sie wahrscheinlich nie wiedersehen.
Als die Ruhe im Lokal wiederhergestellt war, kam Dimitrios an meinen Tisch und setzte sich. Er bat um Entschuldigung für die Störung und sagte, mein Essen ginge diesmal aufs Haus, doch als ich ihn zu überreden versuchte, Marina nicht rauszuschmeißen, blieb er hart. Die Nummer mit der Kette in der Kasse habe er gern mitgemacht, aber Geschäft sei Geschäft, sagte er, und obwohl er „verdammt viel“von Marina halte, sei ihm die Sache mit ihrem durchgeknallten Ehemann zu brenzlig. Dann sagte er etwas, das mich traf wie ein Brandeisen. „Machen Sie sich keine Gedanken“, sagte er. „Das ist nicht Ihre Schuld.“
Aber es war meine Schuld. Die
Verantwortung für diese Schweinerei lag bei mir, und ich konnte für das, was ich der armen Marina angetan hatte, nur Abscheu vor mir selbst empfinden. Sie hatte das Geschenk instinktiv nicht annehmen wollen. Sie kannte ihren Mann, aber statt mir ihre Worte zu Herzen zu nehmen, hatte ich sie gezwungen, die Kette zu behalten, und diese Dummheit, diese riesengroße Dummheit hatte den ganzen Ärger heraufbeschworen. Der Teufel soll mich holen, dachte ich, er soll mich in die Hölle stoßen und tausend Jahre schmoren lassen.
Das war meine letzte Mahlzeit im Cosmic Diner. Bei meinen Spaziergängen auf der Seventh Avenue komme ich immer noch täglich daran vorbei, aber bis heute habe ich nicht den Mut gefunden, wieder dort einzukehren.
Krumme Touren
Am Abend dieses Donnerstags traf ich mich mit Harry in Mike & Tony’s Steak House an der Kreuzung Fifth Avenue und Carroll Street. In diesem Restaurant hatte er Tom zwei Monate zuvor seine beunruhigenden Geständnisse gemacht, und er schlug es wohl deswegen vor, weil er sich dort wohl fühlte. Die vordere Hälfte des Lokals war eine einfache Kneipe, wo man geradezu aktiv zum Rauchen von Zigaretten und Zigarren ermuntert wurde und auf einem großen, an der Wand neben dem Eingang angebrachten Fernseher Sportübertragungen verfolgen konnte. Durchquerte man diesen Raum und öffnete die mit dicken Scheiben verglaste Doppeltür, fand man sich in einer vollkommen anderen Umgebung wieder. Das Restaurant bei Mike & Tony’s war ein kleines Zimmer, mit Teppichen auf dem Boden, Bücherregalen, ein paar Schwarzweißfotos an der Wand und acht bis zehn Tischen. Mit anderen Worten: ein stilles, intimes Plätzchen, das noch den zusätzlichen Vorteil einer leidlichen Akustik bot, die einem erlaubte, sich selbst mit gedämpfter Stimme vernehmlich zu machen. Für Harry war dieses gemütliche Zimmer offenbar so etwas wie ein Beichtstuhl. Auf alle Fälle schüttete er hier gern sein Herz aus – erst Tom und jetzt mir. Er konnte nicht wissen, dass mir von seinem Leben in der Zeit vor Brooklyn mehr als ein paar grobe Fakten bekannt waren: geboren in Buffalo, Exmann von Bette, Vater von Flora, Gefängnisstrafe. Er wusste nichts davon, dass ich von Tom bereits eine Menge Einzelheiten erfahren hatte, und ich hatte nicht vor, ihm das mitzuteilen. Also stellte ich mich ahnungslos, als Harry mir von der längst bekannten Gaunerei mit den Alec-Smith-Bildern und seinem Zerwürfnis mit Gordon Dryer erzählte. Anfangs begriff ich gar nicht, warum er mir das alles anvertraute. Was hatte das mit seinem aktuellen Geschäft zu tun? Ich grübelte hin und her, und als ich zu keinem Ergebnis kam, fragte ich Harry schließlich ganz direkt danach. „Nur Geduld“, sagte er. „Das wird dir schon noch klar werden.“Zu Beginn unserer Mahlzeit sagte ich nicht viel. Der Eklat am Mittag im Cosmic Diner hatte mich schwer erschüttert, und während Harry mit seiner Geschichte vorankam, schweiften meine Gedanken immer wieder zu Marina, ihrem schwachsinnigen Ehemann und der Kette von Ereignissen ab, die mich dazu gebracht hatten, der S. p. M. diesen verfluchten Tinnef abzukaufen. Aber Toms Boss war an diesem Abend gut in Form, und unterstützt von einem Scotch vor dem Essen und dem Wein, den ich zu meinen Blue-Point-Austern trank, kam ich allmählich aus meiner finsteren Laune heraus und konzentrierte mich auf die Gegenwart. Harrys Bericht von seinen Chicagoer Verbrechen deckte sich mit dem, was Tom mir erzählt hatte, von einer denkwürdigen und amüsanten Ausnahme einmal abgesehen. Bei Tom war Harry weinend zusammengebrochen; von Reue überwältigt, hatte er mit sich gehadert, weil er seine Ehe, seine Existenz, seinen Namen ruiniert hatte. Bei mir hingegen zeigte er keine Spur von Reue, prahlte vielmehr mit dem großartigen Coup, den er volle zwei Jahre lang durchgezogen hatte, und betrachtete sein Abenteuer in der Welt der Kunstfälscher rückblickend als eine der schönsten Phasen seines Lebens. Wie war dieser radikale Wandel zu erklären? Hatte er Tom etwas vorgemacht, um sein Mitgefühl und Verständnis zu gewinnen? Oder war diese erste Beichte, unmittelbar nach Floras unheilvollem Besuch in Brooklyn, eine echte Herzensergießung gewesen? Schon möglich. Jeder Mann hat mehrere Seelen in seiner Brust, und die meisten von uns fahren ständig von einer in die andere, ohne je genau zu wissen, wo sie gerade sind. Am einen Tag himmelhoch jauchzend, am nächsten zu Tode betrübt; mürrisch und wortkarg am Morgen, munter Witze reißend am Abend. Als er mit Tom gesprochen hatte, war Harry niedergeschlagen, und jetzt bei mir, belebt von seinen geschäftlichen Plänen, sprudelte er vor Tatendrang. Unsere T-Bone-Steaks wurden gebracht, wir gingen zu einer Flasche Roten über, und dann machte Harry der Spannung endlich ein Ende. Er hatte mich ja schon auf eine Überraschung vorbereitet, aber selbst wenn ich hundertmal hätte raten dürfen, wäre ich niemals auf die verblüffende Neuigkeit gekommen, die er jetzt in aller Seelenruhe verkündete. „Gordon ist wieder da“, sagte er. „Gordon“, wiederholte ich, so perplex, dass mir nichts anderes einfiel. „Du meinst Gordon Dryer?“„Gordon Dryer. Mein alter Gefährte in Sünde und Übermut.“„Wie hat er dich denn bloß aufgespürt?“„Du sagst das, als sei das etwas Schlechtes, Nathan. Ist es aber nicht. Ich bin sehr, sehr glücklich.“„Nach dem, was du ihm angetan hast, würde ich annehmen, dass er dich umbringen will.“„Das habe ich zuerst auch gedacht, aber das alles ist längst ausgestanden. Der Groll, die Verbitterung. Der arme Kerl hat sich in meine Arme geworfen und mich um Vergebung angefleht. Kannst du dir das vorstellen? Er wollte, dass ich ihm vergebe.“»34. Fortsetzung folgt