Das Versuchslabor am Rande der Republik
Leitartikel Oskar Lafontaine ist hier zu Hause, die erste Jamaika-Koalition wurde hier geschmiedet. Nun läuft im Saarland ein neues Experiment: die Operation Schulz
Eine Million Einwohner, gerade mal fünf Landkreise und nur drei Stimmen im Bundesrat: Eigentlich ist das Saarland viel zu klein, um große Politik zu machen. An diesem Sonntag allerdings beginnt dort ein politisches Experiment, das die Fliehkräfte des deutschen Parteiensystems testet wie lange keine Wahl mehr: die Operation Schulz. Seit die SPD sich mit ihrem neuen Frontmann in kollektive Ekstase versetzt hat, scheint plötzlich alles möglich – sogar die Abwahl einer Ministerpräsidentin, mit deren Arbeit drei von vier ihrer Landsleute zufrieden sind.
Machen wir uns nichts vor. An der Saar geht es nicht nur um die Zukunft der CDU-Frau Annegret Kramp-Karrenbauer. Nach dem Hype um den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten ist die erste Landtagswahl des Jahres natürlich auch ein erster bundespolitischer Härtetest. Wahlergebnisse bilden ja nicht nur Stimmungen ab, sie beeinflussen sie auch – und das muss vor allem der Kanzlerin zu denken geben, die noch immer kein Rezept gegen den Höhenflug ihres Herausforderers gefunden hat. Am Sonntag steht der zwar nicht zur Wahl, aber ohne Schulz stünde die Saar-SPD nicht da, wo sie heute steht – nämlich in Sichtweite der Saarbrücker Staatskanzlei.
Für die Union ist vor allem die Eigendynamik gefährlich, die sich mit dem Wechsel an der Spitze der SPD entwickelt hat. Eine rot-rote oder eine rot-rot-grüne Koalition im Saarland, mit eingefädelt bizarrerweise von Oskar Lafontaine: Das wäre nach einer langen Leidenszeit ein Signal, dass die SPD wieder Wahlen gewinnen kann, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung gewissermaßen. In Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, wo im Mai die Landtage neu gewählt werden, liegen die Genossen ohnehin schier uneinholbar vorne.
Das heißt noch lange nicht, dass Martin Schulz deswegen Kanzler wird, dazu liefert er bislang zu wenig an Substanziellem und bietet zu viele Angriffsflächen – mit jeder Wahl jedoch, bei der die SPD altes Terrain zurückerobert, gerät die Union weiter in die Defensive.
Nicht nur in der CSU ist das Unbehagen darüber mit Händen zu greifen, auch in der CDU rumort es, zumal sich im Windschatten des Schulz-Expresses ein interessantes strategisches Manöver anbahnt: Offenbar ist Lafontaine dabei, sein Verhältnis zur SPD zu entkrampfen und die Linke näher an seine alte Partei heranzuführen. Sollte dieses neue Wir-können-doch-Miteinander aus dem Saarland heraus ins Land schwappen, vergrößert das auch die Schnittmenge für eine rot-rot-grüne Allianz im Bund.
Saarbrücken als Versuchslabor? Im Herbst 2009 entschlossen sich Konservative, Grüne und Liberale hier aus purer strategischer Not zur ersten Jamaika-Koalition auf Landesebene, die allerdings nur etwas mehr als zwei Jahre hielt. Nun könnte Lafontaines alte Bastion das erste westdeutsche Bundesland werden, in dem die Linke mitregiert – und, je nach Wahlausgang, innerhalb kurzer Zeit das zweite nach Mecklenburg-Vorpommern, in dem die Grünen wieder aus einem Landtag fliegen. Die Operation Schulz kennt schließlich nicht nur Sieger. Neben der Union gehören bisher auch die Grünen zu den Verlierern, die mit ihrem Spitzenpersonal gegen den neuen Helden der SPD doch ziemlich alt aussehen.
Für den Rest der Republik ist das Saarland weit weg vom berühmten Schuss: zu klein, um wirklich wahrgenommen zu werden, aber doch groß genug, um nicht ganz übersehen zu werden, zumindest nicht an diesem Sonntag. Eine populäre Ministerpräsidentin, je nach Umfrage bis zu fünf Punkte Vorsprung auf die Sozialdemokraten: Unter anderen Umständen wäre diese Wahl ein Selbstläufer für die CDU. Mit Schulz wird sie unberechenbar.
Das Unbehagen in der Union ist mit Händen zu greifen