Wer ist Martin Schulz wirklich?
Porträt Unser Brüsseler Korrespondent begleitet seit Jahren den neuen starken Mann in der SPD. Er erzählt, warum ihn viele unterschätzt haben
Viele haben ihn unterschätzt. Martin Schulz, 61, der Mann aus dem Raum Aachen, der gelernte Buchhändler, den ein reichlich primitiver Nazi-Vergleich des italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi 2003 praktisch über Nacht bekannt machte. Plötzlich wollten alle Schulz sehen, sprechen und hören. Ihn, den SPD-Abgeordneten im Europaparlament.
In Brüssel erinnern sich die Korrespondenten auch sehr lebendig an 2011, als erste Spekulationen auftauchten, der inzwischen zum Chef der sozialistischen Fraktion aufgestiegene Schulz solle der nächste Parlamentspräsident werden. „Das kann der doch gar nicht“, war die einhellige Überzeugung. Er kann.
Der Mann war wortgewaltig. Er polterte gerne und häufig, beschimpfte hinter den Kulissen (und manchmal auch davor) den damaligen Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso. Unvergessen jene Begegnung von Schulz mit Journalisten in Brüssel im September 2011, die er mit den Worten begann: „Mit Blick auf meine künftigen präsidentiellen Aufgaben haben mir meine Mitarbeiter geraten, ab sofort auf folgende Schimpfworte zu verzichten: …“Die Liste war lang.
„Demokratie bedeutet Streit“, schrieb die Gesellschaft zur Verleihung des Internationalen Karlspreises als Begründung dafür, dass man die Auszeichnung 2015 Schulz verlieh. Er mag es, die Dinge beim Namen zu nennen, auch wenn es heikel wird. Als er 2014 in der Knesset, dem israelischen Parlament, die Wasserverteilung zwischen Israel und den Palästinensern als ungerecht geißelte und damit einen Tumult auslöste, war er in seinem Element – obwohl er für seinen Auftritt zu Hause auch viel Prügel bezog.
Doch die Streitbarkeit ist nur die eine Seite des Mannes, der sich nie damit zufriedengeben wollte, dass der Job als erster Mann des Parlaments unter einigen Vorgängern zu einer Art Grüß-Gott-August verkommen worden war. Beim Besuch der Jugendbegegnungsstätte nahe des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz saß er vor zwei Jahren mit jungen Leuten beim Wurstbrot zusammen, erzählte von seinem Großvater, der als strenger Katholik stolz darauf war, niemals „Heil Hitler“gesagt zu haben.
Er erzählt gerne aus seinem Leben, berichtet von seiner Jugend, als die Familie im Dreiländereck zwischen dem deutschen Aachen, dem belgischen Eupen und dem niederländischen Maastricht zerrissen war. Das sind die Augenblicke, in denen jeder spürt: Der Mann verkauft Europa nicht, er ist es. Außerdem weiß man nun auch im tiefen deutschen Süden, dass es im Land eine Stadt gibt namens Würselen (die Einheimischen sagen „Würseln“). Die Heimatstadt von Schulz. Dort hat der Mann einst für den Fußballklub Rhenania gekickt und sogar von einer Profikarriere geträumt. Dort ist er in den siebziger Jahren zum Alkoholiker geworden; seit 1980 ist er trocken. Dort war er von 1987 bis 1998 Bürgermeister. Und dort lebt der Vater zweier erwachsener Kinder noch heute mit seiner Frau, der Landschaftsarchitektin Inge Schulz.
Dass Schulz dennoch nie unumstritten blieb, hat wohl auch damit zu tun, dass er früh lernte, sich selbst um seine Karriere zu kümmern – weil es sonst niemand tat. Dabei würde man das Phänomen Schulz falsch verstehen, würde man ihm unterstellen, sich mit Ellenbogen nach oben zu boxen. Zwar hat er bei der Europawahl 2014 gegen den christdemokratischen Herausforderer und späteren Sieger Jean-Claude Juncker verloren. Aber dass er Wahlkampf kann, hat er gezeigt.
Am 24. November kündigte Schulz seinen Wechsel in die Bundespolitik an. Dass er davon geträumt hat, die Bundeskanzlerin herauszufordern, gibt er nicht zu. Er war tatsächlich bereit, dieses Mal zurückzustecken, um die Freundschaft zu Parteichef Sigmar Gabriel nicht zu riskieren. Nun verzichtet dieser doch und schiebt dafür Schulz in den Ring; Schulz dürfte dies als Befriedigung empfinden.
Merkel und Schulz – das mag ein ungleiches Paar sein. Aber die Bundeskanzlerin und der Ex-Präsident des EU-Parlaments haben stets gut und eng zusammengearbeitet – auch bei den Koalitionsverhandlungen nach der letzten Bundestagswahl. Schulz zeichnete damals für die Europa-Inhalte der SPD verantwortlich. Nun soll er die Sozialdemokraten aus der Ecke holen. Es gibt nur wenige, die daran zweifeln, dass Schulz mit seinen rhetorischen Fähigkeiten in der Lage ist, Boden gutzumachen. Auch wenn er sich mit seinen Zuspitzungen und Überzeichnungen manchmal selbst keinen Gefallen tut. Aber Schulz ist ein Herausforderer, der den Kampf um die Stimmen für den 24. September 2017 sicher spannend macht.