Gutscheine statt Taschengeld für Flüchtlinge
Asylbewerber Kommunen unterstützen Überlegungen von Innenminister de Maizière
Berlin Bund, Länder und Kommunen suchen weiter nach Strategien, um den Zustrom von Flüchtlingen ohne Chance auf Asyl einzudämmen. Eine Idee ist, mehr auf Sachleistungen zu setzen, statt Asylbewerbern Geld auszuzahlen. Mehrere SPD-Spitzenpolitiker machten sich am Wochenende zudem dafür stark, mehr Balkanländer zu sogenannten sicheren Herkunftsstaaten zu erklären, um Menschen von dort schneller abschieben zu können.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) warb für eine Vereinheitlichung der Flüchtlingspolitik in Europa. Auch die Einschätzung, welche Länder als sichere Herkunftsländer angesehen würden, müsse möglichst gemeinsam getroffen werden. Daneben plädierte Merkel im ZDF- Sommerinterview für einheitliche Asylstandards.
„Bei uns gibt es Schutz vor Krieg und Verfolgung, nicht aber einen Anspruch auf Arbeitsmigration“, sagte SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann der Welt am Sonntag. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bekräftigte in der Bild am Sonntag seine Haltung: Albanien, Mazedonien und Kosovo suchten die Annäherung an die EU und könnten „schon deshalb nicht gleichzeitig als Verfolgerstaaten behandelt werden“. Auch BadenWürttembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann bleibt trotz Kritik aus der eigenen Partei offen für Verhandlungen über weitere „sichere Herkunftsstaaten“.
Im Herbst wurden Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien als „sicher“eingestuft. Nun mehreren sich parteiübergreifend Forderungen, auch mit dem Kosovo, Albanien und Montenegro so zu verfahren. Bisher geht die offizielle Prognose von 450 000 neuen Asylanträgen in diesem Jahr aus.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) will in wenigen Tagen eine neue, höhere Zahl bekannt geben. Fast die Hälfte der Anträge stellen Menschen vom Westbalkan, die so gut wie keine Chance auf Asyl haben. Von den Kommunen kam Unterstützung für den Vorstoß von Bundesinnenminister de Maizière, die Geldleistungen für Asylbewerber zu überdenken. „Es sollte geprüft werden, ob das deutsche System zu viele Anreize bietet (z. B. Taschengeld, Ausreisevergütung)“, heißt es in einem Forderungskatalog des Städte- und Gemeindebunds, aus dem die Passauer Neue Presse zitierte.
De Maizière hatte – mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht – gesagt, Deutschland könne die Leistungen für Asylbewerber nicht beliebig reduzieren. „Aber wir können mehr Sachleistungen machen, wir können uns das Taschengeld genauer anschauen.“
Im Innenministerium gibt es nun Überlegungen, die vorgeschriebene Höchstdauer für den Aufenthalt in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu verlängern – also den Zeitraum, in dem Asylbewerber vorrangig Sachleistungen bekommen.
Schleswig-Holstein kündigte an, angesichts der Probleme bei der Bewältigung des Flüchtlingsandrangs auf einen Winterabschiebestopp wie im vergangenen Jahr zu verzichten.
Herr Neudeck, Sie beschäftigen sich fast Ihr ganzes Leben mit dem Schicksal von Flüchtlingen und haben mit Ihrer Hilfsorganisation Komitee Cap Anamur tausende Menschen gerettet. Wie bewerten Sie die derzeitige Entschlossenheit der Deutschen bei der Aufnahme von Flüchtlingen? Rupert Neudeck: Geprägt von meinen Erlebnissen mit „Cap Anamur“erlebe ich meine Bevölkerung eigentlich seit 35 Jahren als sehr, sehr entschlossen. Sie geht voran, wenn sie sieht, dass Menschen in unmittelbarer Not sind.
Ein bundesweiter Streitpunkt ist jedoch, wie man mit Flüchtlingen aus Staaten des Balkans umgehen soll… Neudeck: Hier fackelt die Politik meines Erachtens immer noch viel zu lange. Die Menschen aus den Balkanstaaten werden nicht verfolgt. Dennoch machen sie in Flüchtlings- und Asyllagern bis zu 50 Prozent der Bewohner aus. Sie beschweren uns dadurch im Wortsinne. Das Problem ist die Bürokratie. Jeder, der hierher kommt, kann den Finger heben und sagen: Asyl!
Aktuell wird diskutiert, Menschen aus dem Balkan von anderen Flüchtlingen zu trennen. Was halten Sie davon? Neudeck: Ich würde da fast noch schärfer vorgehen. Unsere Situation ist so entsetzlich, dass wir bald keinen Atem mehr haben. Kommunen und Behörden stehen vor einer riesigen Herausforderung. Die Flüchtlinge aus den Balkanstaaten erhalten alle eine Einzelfallprüfung. Das be- lastet den Gesamtprozess. Die kommen gar nicht nach im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
Was wäre dann Ihr Vorschlag? Gar nicht erst reinlassen? Neudeck: Ja, wenn das geht. Ich habe das selbst beobachtet in einem Land, das ich sehr gut kenne, dem Kosovo. Dort habe ich gesehen, wie Schlepper vorgehen. Das war eine richtig organisierte, ausbeuterische Tour. Da ist es doch besser, die Menschen sofort zurückzuschicken.
Auch Menschen, die aus Syrien kommen, müssen oft auf die Hilfe von Schleppern zurückgreifen, um zu flüchten. Müsste man diesen Menschen den Weg nach Europa erleichtern? Neudeck: Ja, unbedingt. Die Syrer sind gegenwärtig wirklich die verlassenste und unbarmherzigst attackierte Nation. Man müsste eine großzügige Regelung schaffen. Wenn eine syrische Familie der Hölle von Aleppo oder Homs oder Damaskus mit einigen Kindern entfliehen kann, muss sie danach erst in der Türkei oder im Libanon oder in Jordanien einen Termin bei der jeweiligen deutschen Botschaft online für ein Visum beantragen. Bis dieses zustande kommt, vergehen dann oft Wochen. Das ist natürlich eine unerträglich lange Zeit für Menschen, die kein Einkommen mehr haben und mit Kindern in einem fremden Land unterwegs sind.
Viele Syrer wählen wie andere Flüchtlinge den Weg über das Mittelmeer… Neudeck: Europa darf, wenn es Europa bleiben möchte, Menschen nicht im Meer ertrinken lassen. Zum Glück passiert da gerade, auch auf Initiative der deutschen Bevölkerung, sehr viel. Es gibt neben der Hilfe durch die Bundesmarine mehrere private Schiffe, die im Mittelmeer unterwegs sind. Zum Beispiel die „Sea-Watch“, ein Schiff eines brandenburgischen Kapitäns vor Lampedusa, und die „Phönix“, die durch unbemannte Drohnen zur Rettung beitragen können. Was sollte Europa tun? Neudeck: Wir müssen langfristig dafür sorgen, dass die Menschen diesen gefährlichen Weg gar nicht erst antreten. Ich habe das Schicksal der jungen Menschen in Mauretanien mitverfolgen können. Sie können nicht zurück. Sie sind gebunden an einen Kredit, den sie von ihrer Großfamilie oder ihrem Dorf bekommen haben. Da können sie ja nicht einfach sagen, ich habe das da an der Küste gesehen, das ist viel zu gefährlich, da werden Leichen angeschwemmt, ich gehe jetzt zurück.
Was schlagen Sie zur Lösung vor? Neudeck: Wir müssen erreichen, dass die Menschen mit einer Berufsausbildung wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren können. Wir von den „Grünhelmen“wollen deshalb in Ägypten und in Marokko in Absprache mit den dortigen Regierungen Berufsausbildungsstätten aufbauen – in Kooperation mit der deutschen Wirtschaft. Denn es kann auf Dauer natürlich nicht gehen, dass immer noch mehr Menschen nach Europa kommen. Schätzungen gehen davon aus, dass auf dem afrikanischen Kontinent 18 Millionen junge Menschen auf dem Weg sind – drei bis vier Millionen nach Südafrika, der Rest nach Europa.
War die jahrzehntelange Entwicklungshilfe in vielen Ländern Afrikas am Ende erfolglos? Neudeck: Ich möchte nicht so tun, als wüsste ich alles besser. Aber die
Entwicklungspolitik ist insbesondere während des Kalten Krieges in Europa regelrecht versaut worden. Wir haben damals Länder und Regierungen unterstützt, die wir nicht hätten unterstützen dürfen. Was muss sich ändern? Neudeck: Wir müssen uns auf eine bescheidenere Form der Hilfe konzentrieren. Wir dürfen nicht meinen, wir könnten Afrika retten, indem wir Milliarden verteilen. Das ist Unsinn. Stattdessen sollten wir ein, zwei Länder zu Leuchttürmen machen. Sie zu unseren Partnern machen und sie das auch spüren lassen. Was können die afrikanischen Staaten selber tun? Neudeck: Ganz ehrlich, ich bin stinksauer, dass ich noch keinen Präsidenten Afrikas gesehen oder gehört habe, der seine Trauer darüber zum Ausdruck gebracht hat, dass junge Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken. Die Afrikanische Union ruft auch keine Sondersitzungen ein, um zu besprechen, wie verhindert werden kann, dass junge Menschen über das Mittelmeer müssen. Dass Afrika materiell wenig zu der Lösung der Probleme beitragen kann, würde ich akzeptieren. Aber Politik hat nicht nur etwas mit Taten, sondern auch mit Gesten zu tun.
„Unsere Situation ist so entsetzlich, dass wir bald keinen Atem mehr haben.“„Cap Anamur“-Gründer
Rupert Neudeck
Glauben Sie, dass sich die Dinge in Afrika zum Besseren wenden können? Neudeck: Ja! Denn wenn ich nach Afrika komme, dann erlebe ich meist eine unglaublich fröhliche junge Bevölkerung. Da herrscht eine solche Aufbruchstimmung, das kann man sich als Europäer gar nicht vorstellen.
Zur Person Rupert Neudeck, 76, ist ein deutscher Journalist, Mitgründer der Organisation „Cap Anamur / Deutsche Notärzte“und Vorsitzender des Friedenskorps „Grünhelme Weltweit“. Bekannt wurde Neudeck 1979 durch die Rettung tausender vietnamesischer Flüchtlinge, sogenannter „Boatpeople“, im Chinesischen Meer mit dem Rettungsschiff Cap Anamur. Neudeck, der als Kind selbst aus Danzig im heutigen Polen fliehen musste, engagiert sich bis heute für Flüchtlinge.