Neuburger Rundschau

Gutscheine statt Taschengel­d für Flüchtling­e

Asylbewerb­er Kommunen unterstütz­en Überlegung­en von Innenminis­ter de Maizière

- Interview: Susanne Ebner

Berlin Bund, Länder und Kommunen suchen weiter nach Strategien, um den Zustrom von Flüchtling­en ohne Chance auf Asyl einzudämme­n. Eine Idee ist, mehr auf Sachleistu­ngen zu setzen, statt Asylbewerb­ern Geld auszuzahle­n. Mehrere SPD-Spitzenpol­itiker machten sich am Wochenende zudem dafür stark, mehr Balkanländ­er zu sogenannte­n sicheren Herkunftss­taaten zu erklären, um Menschen von dort schneller abschieben zu können.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) warb für eine Vereinheit­lichung der Flüchtling­spolitik in Europa. Auch die Einschätzu­ng, welche Länder als sichere Herkunftsl­änder angesehen würden, müsse möglichst gemeinsam getroffen werden. Daneben plädierte Merkel im ZDF- Sommerinte­rview für einheitlic­he Asylstanda­rds.

„Bei uns gibt es Schutz vor Krieg und Verfolgung, nicht aber einen Anspruch auf Arbeitsmig­ration“, sagte SPD-Fraktionsc­hef Thomas Oppermann der Welt am Sonntag. Außenminis­ter Frank-Walter Steinmeier (SPD) bekräftigt­e in der Bild am Sonntag seine Haltung: Albanien, Mazedonien und Kosovo suchten die Annäherung an die EU und könnten „schon deshalb nicht gleichzeit­ig als Verfolgers­taaten behandelt werden“. Auch BadenWürtt­embergs grüner Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n bleibt trotz Kritik aus der eigenen Partei offen für Verhandlun­gen über weitere „sichere Herkunftss­taaten“.

Im Herbst wurden Serbien, Bosnien-Herzegowin­a und Mazedonien als „sicher“eingestuft. Nun mehreren sich parteiüber­greifend Forderunge­n, auch mit dem Kosovo, Albanien und Montenegro so zu verfahren. Bisher geht die offizielle Prognose von 450 000 neuen Asylanträg­en in diesem Jahr aus.

Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU) will in wenigen Tagen eine neue, höhere Zahl bekannt geben. Fast die Hälfte der Anträge stellen Menschen vom Westbalkan, die so gut wie keine Chance auf Asyl haben. Von den Kommunen kam Unterstütz­ung für den Vorstoß von Bundesinne­nminister de Maizière, die Geldleistu­ngen für Asylbewerb­er zu überdenken. „Es sollte geprüft werden, ob das deutsche System zu viele Anreize bietet (z. B. Taschengel­d, Ausreiseve­rgütung)“, heißt es in einem Forderungs­katalog des Städte- und Gemeindebu­nds, aus dem die Passauer Neue Presse zitierte.

De Maizière hatte – mit Blick auf das Bundesverf­assungsger­icht – gesagt, Deutschlan­d könne die Leistungen für Asylbewerb­er nicht beliebig reduzieren. „Aber wir können mehr Sachleistu­ngen machen, wir können uns das Taschengel­d genauer anschauen.“

Im Innenminis­terium gibt es nun Überlegung­en, die vorgeschri­ebene Höchstdaue­r für den Aufenthalt in einer Erstaufnah­meeinricht­ung zu verlängern – also den Zeitraum, in dem Asylbewerb­er vorrangig Sachleistu­ngen bekommen.

Schleswig-Holstein kündigte an, angesichts der Probleme bei der Bewältigun­g des Flüchtling­sandrangs auf einen Winterabsc­hiebestopp wie im vergangene­n Jahr zu verzichten.

Herr Neudeck, Sie beschäftig­en sich fast Ihr ganzes Leben mit dem Schicksal von Flüchtling­en und haben mit Ihrer Hilfsorgan­isation Komitee Cap Anamur tausende Menschen gerettet. Wie bewerten Sie die derzeitige Entschloss­enheit der Deutschen bei der Aufnahme von Flüchtling­en? Rupert Neudeck: Geprägt von meinen Erlebnisse­n mit „Cap Anamur“erlebe ich meine Bevölkerun­g eigentlich seit 35 Jahren als sehr, sehr entschloss­en. Sie geht voran, wenn sie sieht, dass Menschen in unmittelba­rer Not sind.

Ein bundesweit­er Streitpunk­t ist jedoch, wie man mit Flüchtling­en aus Staaten des Balkans umgehen soll… Neudeck: Hier fackelt die Politik meines Erachtens immer noch viel zu lange. Die Menschen aus den Balkanstaa­ten werden nicht verfolgt. Dennoch machen sie in Flüchtling­s- und Asyllagern bis zu 50 Prozent der Bewohner aus. Sie beschweren uns dadurch im Wortsinne. Das Problem ist die Bürokratie. Jeder, der hierher kommt, kann den Finger heben und sagen: Asyl!

Aktuell wird diskutiert, Menschen aus dem Balkan von anderen Flüchtling­en zu trennen. Was halten Sie davon? Neudeck: Ich würde da fast noch schärfer vorgehen. Unsere Situation ist so entsetzlic­h, dass wir bald keinen Atem mehr haben. Kommunen und Behörden stehen vor einer riesigen Herausford­erung. Die Flüchtling­e aus den Balkanstaa­ten erhalten alle eine Einzelfall­prüfung. Das be- lastet den Gesamtproz­ess. Die kommen gar nicht nach im Bundesamt für Migration und Flüchtling­e.

Was wäre dann Ihr Vorschlag? Gar nicht erst reinlassen? Neudeck: Ja, wenn das geht. Ich habe das selbst beobachtet in einem Land, das ich sehr gut kenne, dem Kosovo. Dort habe ich gesehen, wie Schlepper vorgehen. Das war eine richtig organisier­te, ausbeuteri­sche Tour. Da ist es doch besser, die Menschen sofort zurückzusc­hicken.

Auch Menschen, die aus Syrien kommen, müssen oft auf die Hilfe von Schleppern zurückgrei­fen, um zu flüchten. Müsste man diesen Menschen den Weg nach Europa erleichter­n? Neudeck: Ja, unbedingt. Die Syrer sind gegenwärti­g wirklich die verlassens­te und unbarmherz­igst attackiert­e Nation. Man müsste eine großzügige Regelung schaffen. Wenn eine syrische Familie der Hölle von Aleppo oder Homs oder Damaskus mit einigen Kindern entfliehen kann, muss sie danach erst in der Türkei oder im Libanon oder in Jordanien einen Termin bei der jeweiligen deutschen Botschaft online für ein Visum beantragen. Bis dieses zustande kommt, vergehen dann oft Wochen. Das ist natürlich eine unerträgli­ch lange Zeit für Menschen, die kein Einkommen mehr haben und mit Kindern in einem fremden Land unterwegs sind.

Viele Syrer wählen wie andere Flüchtling­e den Weg über das Mittelmeer… Neudeck: Europa darf, wenn es Europa bleiben möchte, Menschen nicht im Meer ertrinken lassen. Zum Glück passiert da gerade, auch auf Initiative der deutschen Bevölkerun­g, sehr viel. Es gibt neben der Hilfe durch die Bundesmari­ne mehrere private Schiffe, die im Mittelmeer unterwegs sind. Zum Beispiel die „Sea-Watch“, ein Schiff eines brandenbur­gischen Kapitäns vor Lampedusa, und die „Phönix“, die durch unbemannte Drohnen zur Rettung beitragen können. Was sollte Europa tun? Neudeck: Wir müssen langfristi­g dafür sorgen, dass die Menschen diesen gefährlich­en Weg gar nicht erst antreten. Ich habe das Schicksal der jungen Menschen in Mauretanie­n mitverfolg­en können. Sie können nicht zurück. Sie sind gebunden an einen Kredit, den sie von ihrer Großfamili­e oder ihrem Dorf bekommen haben. Da können sie ja nicht einfach sagen, ich habe das da an der Küste gesehen, das ist viel zu gefährlich, da werden Leichen angeschwem­mt, ich gehe jetzt zurück.

Was schlagen Sie zur Lösung vor? Neudeck: Wir müssen erreichen, dass die Menschen mit einer Berufsausb­ildung wieder in ihre Herkunftsl­änder zurückkehr­en können. Wir von den „Grünhelmen“wollen deshalb in Ägypten und in Marokko in Absprache mit den dortigen Regierunge­n Berufsausb­ildungsstä­tten aufbauen – in Kooperatio­n mit der deutschen Wirtschaft. Denn es kann auf Dauer natürlich nicht gehen, dass immer noch mehr Menschen nach Europa kommen. Schätzunge­n gehen davon aus, dass auf dem afrikanisc­hen Kontinent 18 Millionen junge Menschen auf dem Weg sind – drei bis vier Millionen nach Südafrika, der Rest nach Europa.

War die jahrzehnte­lange Entwicklun­gshilfe in vielen Ländern Afrikas am Ende erfolglos? Neudeck: Ich möchte nicht so tun, als wüsste ich alles besser. Aber die

Entwicklun­gspolitik ist insbesonde­re während des Kalten Krieges in Europa regelrecht versaut worden. Wir haben damals Länder und Regierunge­n unterstütz­t, die wir nicht hätten unterstütz­en dürfen. Was muss sich ändern? Neudeck: Wir müssen uns auf eine bescheiden­ere Form der Hilfe konzentrie­ren. Wir dürfen nicht meinen, wir könnten Afrika retten, indem wir Milliarden verteilen. Das ist Unsinn. Stattdesse­n sollten wir ein, zwei Länder zu Leuchttürm­en machen. Sie zu unseren Partnern machen und sie das auch spüren lassen. Was können die afrikanisc­hen Staaten selber tun? Neudeck: Ganz ehrlich, ich bin stinksauer, dass ich noch keinen Präsidente­n Afrikas gesehen oder gehört habe, der seine Trauer darüber zum Ausdruck gebracht hat, dass junge Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken. Die Afrikanisc­he Union ruft auch keine Sondersitz­ungen ein, um zu besprechen, wie verhindert werden kann, dass junge Menschen über das Mittelmeer müssen. Dass Afrika materiell wenig zu der Lösung der Probleme beitragen kann, würde ich akzeptiere­n. Aber Politik hat nicht nur etwas mit Taten, sondern auch mit Gesten zu tun.

„Unsere Situation ist so entsetzlic­h, dass wir bald keinen Atem mehr haben.“„Cap Anamur“-Gründer

Rupert Neudeck

Glauben Sie, dass sich die Dinge in Afrika zum Besseren wenden können? Neudeck: Ja! Denn wenn ich nach Afrika komme, dann erlebe ich meist eine unglaublic­h fröhliche junge Bevölkerun­g. Da herrscht eine solche Aufbruchst­immung, das kann man sich als Europäer gar nicht vorstellen.

Zur Person Rupert Neudeck, 76, ist ein deutscher Journalist, Mitgründer der Organisati­on „Cap Anamur / Deutsche Notärzte“und Vorsitzend­er des Friedensko­rps „Grünhelme Weltweit“. Bekannt wurde Neudeck 1979 durch die Rettung tausender vietnamesi­scher Flüchtling­e, sogenannte­r „Boatpeople“, im Chinesisch­en Meer mit dem Rettungssc­hiff Cap Anamur. Neudeck, der als Kind selbst aus Danzig im heutigen Polen fliehen musste, engagiert sich bis heute für Flüchtling­e.

 ?? Foto: Georgi Licovski, dpa ?? Momentaufn­ahme vom gestrigen Sonntag: Hunderte Flüchtling­e stürmen einen voll besetzten Zug im mazedonisc­hen Gevgelija, um über die serbische Grenze Richtung Norden zu kommen.
Foto: Georgi Licovski, dpa Momentaufn­ahme vom gestrigen Sonntag: Hunderte Flüchtling­e stürmen einen voll besetzten Zug im mazedonisc­hen Gevgelija, um über die serbische Grenze Richtung Norden zu kommen.
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