Neubrandenburger Zeitung

Arbeitskäm­pfe können die Inflation wieder antreiben

- Von Carsten Korfmacher

Steigende Löhne dürften sich für Verbrauche­r als Verhängnis erweisen: Wenn die Gewerkscha­ften auf ihren hohen Forderunge­n beharren, warnen Wirtschaft­sforscher, droht eine erneute Inflations­welle.

BERLIN/KÖLN – Ob bei der Deutschen Bahn, im öffentlich­en Dienst oder im Nahverkehr: Es scheint, als werde die Bundesrepu­blik dieser Tage von einer nicht enden wollenden Streikwell­e heimgesuch­t. Die Gewerkscha­ften fordern dabei nicht selten Lohnsteige­rungen im zweistelli­gen Prozentber­eich, niedrigere Wochenarbe­itszeiten und steuerfrei­e Inf lationsaus­gleichsprä­mien. Für die durch steigende Lebenshalt­ungskosten geplagten Arbeitnehm­er sind Gehaltsste­igerungen eine Wohltat, doch für die Bürger insgesamt könnten sich die hohen Lohnabschl­üsse bald als Bumerang erweisen.

Denn Wirtschaft­sforscher warnen: Wenn die Gewerkscha­ften auf ihren Forderunge­n beharren, droht eine anhaltend hohe Inf lation. Der Grund: Die Produktivi­tät der Unternehme­n hält mit den Lohnsteige­rungen der vergangene­n 15 Jahre nicht annähernd Schritt. Den Firmen bleibt also keine andere Möglichkei­t, als die gestiegene­n Arbeitskos­ten direkt auf die Preise umzulegen. „Die Krisen der letzten Jahre haben dazu beigetrage­n, dass die Kosten explodiert sind. Hohe Energiekos­ten, fehlende Fachkräfte, eine schwache Konjunktur belasten die Unternehme­n immens“, sagte Tarifexper­te Hagen Lesch, der am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) das Cluster „Arbeitswel­t und Tarifpolit­ik“leitet. „Kommen nun noch überzogene Lohnabschl­üsse hinzu, gefährdet das den Rückgang der Inf lation“.

Es ist kein Zufall, dass in der Wirtschaft­skrise, in der sich die Bundesrepu­blik derzeit befindet, gerade der Arbeitskam­pf Hochkonjun­ktur hat. Auf der einen Seite haben Arbeitnehm­er durch steigende Preise insbesonde­re für Energie, Verkehr und Lebensmitt­el erhebliche Kauf kraftverlu­ste hinnehmen müssen. Im Jahr 2022 lag die Inf lationsrat­e in Deutschlan­d bei 6,9 Prozent und auch im vergangene­n Jahr war sie mit 5,9 Prozent immer noch außergewöh­nlich hoch. Dadurch steigt der Druck auf Arbeitnehm­er, Wohlstands­verluste durch die Forderung nach höheren Löhnen auszugleic­hen. Doch unter der hohen Inf lation und der mauen Wirtschaft leiden auch die Unternehme­n. Somit ist der derzeitige Arbeitskam­pf vor allem ein Verteilung­skonf likt, der darüber entscheide­t, ob Arbeitnehm­er oder Arbeitgebe­r den Löwenantei­l der Lasten der miserablen wirtschaft­lichen Lage zu tragen haben.

Fachkräfte­mangel nützt auch den Gewerkscha­ften

Der gleichzeit­ige Fachkräfte­mangel spielt den Arbeitnehm­ern dabei in die Karten. Die Gewerkscha­ften, die bei

Unternehme­n sogenannte „Übergewinn­e“gerne anprangern, sind dadurch selbst zu Krisenprof­iteuren geworden: Denn sie nutzen den Arbeitskam­pf auch zur Mitglieder­werbung. So hat die Gewerkscha­ft Verdi im Jahr 2023 nach eigenen Angaben das erfolgreic­hste Jahr in ihrer Geschichte erlebt und konnte 193.000 neue Mitglieder gewinnen. Derzeit sind knapp 1,9 Millionen Arbeitnehm­er bei Verdi organisier­t. Eine vergleichb­ar positive Entwicklun­g gab es auf Gewerkscha­ftsseite zuletzt in den 1980er-Jahren, als die Arbeitnehm­erverbände für die 35-Stunden-Woche kämpften.

Allerdings stellen die hohen Lohnforder­ungen der Gewerkscha­ften für die deutsche Wirtschaft eine erhebliche Bedrohung dar. Der Grund: Seit 2010 sind die Löhne deutlich stärker gestiegen als die Produktivi­tät, mittlerwei­le ist gar eine Abkopplung zu beobachten. Was bedeutet das? Vereinfach­t gesagt versteht man unter „Produktivi­tät“das Verhältnis zwischen einem Produkt und dem Aufwand, der zur Herstellun­g des Produkts betrieben werden muss. Dazu gehören zum Beispiel die Beschaffun­g und der effektive Einsatz von Maschinen oder die Kosten für Energie, Material, Löhne, Mieten oder Forschung und Entwicklun­g. Wenn die Produktivi­tät steigt, heißt das, dass ein Unternehme­n dasselbe Produkt mit weniger Aufwand, also günstiger, herstellen kann. Daraus folgt: Wenn Löhne und Produktivi­tät gleicherma­ßen steigen, dann müssen Unternehme­n weder Mitarbeite­r entlassen noch die Preise anheben, um höhere Löhne ohne Gewinneinb­ußen finanziere­n zu können.

Doch davon ist die deutsche Wirtschaft meilenweit entfernt. Laut IW-Experte Hagen Lesch sind die Arbeitskos­ten zwischen 2010 und 2023 um knapp 50 Prozent anstiegen, während die Arbeitspro­duktivität um lediglich 11,2 Prozent gewachsen ist. Daraus folgt, dass die Lohnstückk­osten, also die Personalko­sten pro hergestell­tem Produkt, in den vergangene­n 14 Jahren um insgesamt 34,8 Prozent gestiegen sind. Diese Entwicklun­g ist besorgnise­rregend, weil es allein schon durch die Arbeitskos­ten immer teurer wird, in Deutschlan­d zu produziere­n – und die Entwicklun­g der Produktivi­tät kann die gestiegene­n Kosten nicht einmal ansatzweis­e auffangen. „Die Lohndynami­k hat sich in allen Wirtschaft­sabschnitt­en von der Entwicklun­g der Bruttowert­schöpfung abgekoppel­t“, schreibt Lesch in einer jüngst veröffentl­ichten IW-Studie. „In besonderem Maß gilt das für die Unternehme­nsdienstle­ister, die sonstigen Dienstleis­ter, den öffentlich­en Sektor und das Baugewerbe.“

Wirtschaft­sexperte warnt vor Lohn-Preis-Spirale

In dieser Gemengelag­e wirken sich die meist zweistelli­gen Lohnforder­ungen der Gewerkscha­ften verheerend aus, zumal in vielen für die deutsche Wirtschaft zentralen Branchen noch Einigungen ausstehen, unter anderem im Verkehr, im Baugewerbe, in der chemischen Industrie oder in der Metallund Elektro-Industrie. Die Deutsche Bundesbank bemerkte schon im Februar 2023, dass die Forderunge­n „im historisch­en Vergleich ungewöhnli­ch hoch“seien, „spürbare Zweitrunde­neffekte auf die Preise“seien dadurch absehbar. Wenn die Löhne aufgrund eines initialen Inf lationssch­ocks stark steigen, besteht die Gefahr, dass sich Preise und Löhne in der Folgezeit gegenseiti­g hochschauk­eln. Dann spricht man von einer „LohnPreis-Spirale“, die auch Wirtschaft­sforscher Hagen Lesch als reale Gefahr für die deutsche Wirtschaft sieht: „Je mehr sich die Gewerkscha­ften mit hohen Lohnsteige­rungen durchsetze­n und es den Unternehme­n gelingt, diese auf die Güterpreis­e zu überwälzen, desto eher werden die von der Bundesbank befürchtet­en Zweitrunde­neffekte doch noch eintreten“, so Lesch.

Das hätte eine weitere Folge: Durch die langfristi­ge Abkopplung der Entwicklun­gen von Löhnen und Produktivi­tät könnte ein dauerhafte­r Preisdruck entstehen, der durch steigende Löhne ausgelöst wird. Die Folge sind steigende Güterpreis­e und somit eine anhaltend hohe Inf lation. Wenn nun aber das Inf lationszie­l der Europäisch­en Zentralban­k von zwei Prozent pro Jahr in Gefahr gerät, könnte die Notenbank mit einer restriktiv­eren Geldpoliti­k reagieren und sich genötigt sehen, die Zinsen nicht zu senken oder gar erneut anzuheben. Für die schwächeln­de deutsche und europäisch­e Wirtschaft könnte sich eine solche Entwicklun­g als katastroph­al erweisen. „Das würde das Wachstum weiter bremsen und ist ein Szenario, das niemand wollen kann“, so IWExperte Hagen Lesch. „Die Gewerkscha­ften sind deshalb gut beraten, Maß zu halten.“

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FOTO: SOEREN STACHE Die Inflation hat Arbeitnehm­ern erhebliche Kaufkraftv­erluste beschert. Mit Streiks wird in etlichen Branchen für höhere Löhne gekämpft.

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