Arbeitskämpfe können die Inflation wieder antreiben
Steigende Löhne dürften sich für Verbraucher als Verhängnis erweisen: Wenn die Gewerkschaften auf ihren hohen Forderungen beharren, warnen Wirtschaftsforscher, droht eine erneute Inflationswelle.
BERLIN/KÖLN – Ob bei der Deutschen Bahn, im öffentlichen Dienst oder im Nahverkehr: Es scheint, als werde die Bundesrepublik dieser Tage von einer nicht enden wollenden Streikwelle heimgesucht. Die Gewerkschaften fordern dabei nicht selten Lohnsteigerungen im zweistelligen Prozentbereich, niedrigere Wochenarbeitszeiten und steuerfreie Inf lationsausgleichsprämien. Für die durch steigende Lebenshaltungskosten geplagten Arbeitnehmer sind Gehaltssteigerungen eine Wohltat, doch für die Bürger insgesamt könnten sich die hohen Lohnabschlüsse bald als Bumerang erweisen.
Denn Wirtschaftsforscher warnen: Wenn die Gewerkschaften auf ihren Forderungen beharren, droht eine anhaltend hohe Inf lation. Der Grund: Die Produktivität der Unternehmen hält mit den Lohnsteigerungen der vergangenen 15 Jahre nicht annähernd Schritt. Den Firmen bleibt also keine andere Möglichkeit, als die gestiegenen Arbeitskosten direkt auf die Preise umzulegen. „Die Krisen der letzten Jahre haben dazu beigetragen, dass die Kosten explodiert sind. Hohe Energiekosten, fehlende Fachkräfte, eine schwache Konjunktur belasten die Unternehmen immens“, sagte Tarifexperte Hagen Lesch, der am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) das Cluster „Arbeitswelt und Tarifpolitik“leitet. „Kommen nun noch überzogene Lohnabschlüsse hinzu, gefährdet das den Rückgang der Inf lation“.
Es ist kein Zufall, dass in der Wirtschaftskrise, in der sich die Bundesrepublik derzeit befindet, gerade der Arbeitskampf Hochkonjunktur hat. Auf der einen Seite haben Arbeitnehmer durch steigende Preise insbesondere für Energie, Verkehr und Lebensmittel erhebliche Kauf kraftverluste hinnehmen müssen. Im Jahr 2022 lag die Inf lationsrate in Deutschland bei 6,9 Prozent und auch im vergangenen Jahr war sie mit 5,9 Prozent immer noch außergewöhnlich hoch. Dadurch steigt der Druck auf Arbeitnehmer, Wohlstandsverluste durch die Forderung nach höheren Löhnen auszugleichen. Doch unter der hohen Inf lation und der mauen Wirtschaft leiden auch die Unternehmen. Somit ist der derzeitige Arbeitskampf vor allem ein Verteilungskonf likt, der darüber entscheidet, ob Arbeitnehmer oder Arbeitgeber den Löwenanteil der Lasten der miserablen wirtschaftlichen Lage zu tragen haben.
Fachkräftemangel nützt auch den Gewerkschaften
Der gleichzeitige Fachkräftemangel spielt den Arbeitnehmern dabei in die Karten. Die Gewerkschaften, die bei
Unternehmen sogenannte „Übergewinne“gerne anprangern, sind dadurch selbst zu Krisenprofiteuren geworden: Denn sie nutzen den Arbeitskampf auch zur Mitgliederwerbung. So hat die Gewerkschaft Verdi im Jahr 2023 nach eigenen Angaben das erfolgreichste Jahr in ihrer Geschichte erlebt und konnte 193.000 neue Mitglieder gewinnen. Derzeit sind knapp 1,9 Millionen Arbeitnehmer bei Verdi organisiert. Eine vergleichbar positive Entwicklung gab es auf Gewerkschaftsseite zuletzt in den 1980er-Jahren, als die Arbeitnehmerverbände für die 35-Stunden-Woche kämpften.
Allerdings stellen die hohen Lohnforderungen der Gewerkschaften für die deutsche Wirtschaft eine erhebliche Bedrohung dar. Der Grund: Seit 2010 sind die Löhne deutlich stärker gestiegen als die Produktivität, mittlerweile ist gar eine Abkopplung zu beobachten. Was bedeutet das? Vereinfacht gesagt versteht man unter „Produktivität“das Verhältnis zwischen einem Produkt und dem Aufwand, der zur Herstellung des Produkts betrieben werden muss. Dazu gehören zum Beispiel die Beschaffung und der effektive Einsatz von Maschinen oder die Kosten für Energie, Material, Löhne, Mieten oder Forschung und Entwicklung. Wenn die Produktivität steigt, heißt das, dass ein Unternehmen dasselbe Produkt mit weniger Aufwand, also günstiger, herstellen kann. Daraus folgt: Wenn Löhne und Produktivität gleichermaßen steigen, dann müssen Unternehmen weder Mitarbeiter entlassen noch die Preise anheben, um höhere Löhne ohne Gewinneinbußen finanzieren zu können.
Doch davon ist die deutsche Wirtschaft meilenweit entfernt. Laut IW-Experte Hagen Lesch sind die Arbeitskosten zwischen 2010 und 2023 um knapp 50 Prozent anstiegen, während die Arbeitsproduktivität um lediglich 11,2 Prozent gewachsen ist. Daraus folgt, dass die Lohnstückkosten, also die Personalkosten pro hergestelltem Produkt, in den vergangenen 14 Jahren um insgesamt 34,8 Prozent gestiegen sind. Diese Entwicklung ist besorgniserregend, weil es allein schon durch die Arbeitskosten immer teurer wird, in Deutschland zu produzieren – und die Entwicklung der Produktivität kann die gestiegenen Kosten nicht einmal ansatzweise auffangen. „Die Lohndynamik hat sich in allen Wirtschaftsabschnitten von der Entwicklung der Bruttowertschöpfung abgekoppelt“, schreibt Lesch in einer jüngst veröffentlichten IW-Studie. „In besonderem Maß gilt das für die Unternehmensdienstleister, die sonstigen Dienstleister, den öffentlichen Sektor und das Baugewerbe.“
Wirtschaftsexperte warnt vor Lohn-Preis-Spirale
In dieser Gemengelage wirken sich die meist zweistelligen Lohnforderungen der Gewerkschaften verheerend aus, zumal in vielen für die deutsche Wirtschaft zentralen Branchen noch Einigungen ausstehen, unter anderem im Verkehr, im Baugewerbe, in der chemischen Industrie oder in der Metallund Elektro-Industrie. Die Deutsche Bundesbank bemerkte schon im Februar 2023, dass die Forderungen „im historischen Vergleich ungewöhnlich hoch“seien, „spürbare Zweitrundeneffekte auf die Preise“seien dadurch absehbar. Wenn die Löhne aufgrund eines initialen Inf lationsschocks stark steigen, besteht die Gefahr, dass sich Preise und Löhne in der Folgezeit gegenseitig hochschaukeln. Dann spricht man von einer „LohnPreis-Spirale“, die auch Wirtschaftsforscher Hagen Lesch als reale Gefahr für die deutsche Wirtschaft sieht: „Je mehr sich die Gewerkschaften mit hohen Lohnsteigerungen durchsetzen und es den Unternehmen gelingt, diese auf die Güterpreise zu überwälzen, desto eher werden die von der Bundesbank befürchteten Zweitrundeneffekte doch noch eintreten“, so Lesch.
Das hätte eine weitere Folge: Durch die langfristige Abkopplung der Entwicklungen von Löhnen und Produktivität könnte ein dauerhafter Preisdruck entstehen, der durch steigende Löhne ausgelöst wird. Die Folge sind steigende Güterpreise und somit eine anhaltend hohe Inf lation. Wenn nun aber das Inf lationsziel der Europäischen Zentralbank von zwei Prozent pro Jahr in Gefahr gerät, könnte die Notenbank mit einer restriktiveren Geldpolitik reagieren und sich genötigt sehen, die Zinsen nicht zu senken oder gar erneut anzuheben. Für die schwächelnde deutsche und europäische Wirtschaft könnte sich eine solche Entwicklung als katastrophal erweisen. „Das würde das Wachstum weiter bremsen und ist ein Szenario, das niemand wollen kann“, so IWExperte Hagen Lesch. „Die Gewerkschaften sind deshalb gut beraten, Maß zu halten.“