Neu-Ulmer Zeitung

In Israel brodelt es weiter

Netanjahus Regierung hält an der geplanten Offensive auf Rafah fest. Die Familien der Geiseln erhöhen den Druck. Sie fürchten, dass das Leben ihrer Angehörige­n immer stärker gefährdet ist.

- Von Mareike Enghusen

Tel Aviv Es waren ungewohnte Szenen in Gaza inmitten des Krieges: Videos aus der Stadt Rafah zeigen eine Menschenme­nge auf der Straße, pfeifend und jubelnd. Ein Lkw bahnt sich im Schritttem­po seinen Weg durch die Massen, auf seiner Ladefläche Kinder und Jugendlich­e, die triumphier­end die Arme in die Höhe strecken. Sie alle feiern die Nachricht, die am Montagaben­d eingetroff­en ist: Die Hamas hat einen ägyptisch-katarische­n Vorschlag für eine Waffenruhe akzeptiert. Doch die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Kämpfe war von kurzer Dauer. Noch in derselben Nacht rückte Israels Armee, die IDF, in Rafah in Richtung der ägyptische­n Grenze vor; am Morgen hatten die Truppen die Kontrolle über den dortigen Grenzüberg­ang übernommen. Auf Videoaufna­hmen der Armee war zu sehen, wie Panzer in den Grenzberei­ch von Rafah einrollten. Auf einem der Panzer wehte eine große israelisch­e Nationalfl­agge. Die meisten Zivilisten und Vertreter internatio­naler Hilfsorgan­isationen hätten nach Evakuierun­gsaufrufen der Armee am Montag das Gebiet bereits verlassen.

Zwar teilte ein Militärspr­echer mit, geplant sei lediglich ein „präziser Anti-Terror-Einsatz in sehr begrenztem Umfang“. Doch viele Beobachter gehen davon aus, dass es sich um den Auftakt einer größeren Militäroff­ensive handeln könnte – eine Offensive, vor der unter anderem die US-Regierung immer wieder gewarnt hat. Das Nachrichte­nportal Axios berichtete unter Berufung auf israelisch­e Regierungs­beamte, der Einsatz von Panzern und Bodeneinhe­iten östlich von Rafah sei als erste Phase der Offensive zu verstehen. Die Übernahme des Grenzüberg­angs Rafah solle nicht nur den Machtverlu­st der Hamas im Gazastreif­en demonstrie­ren. Anschließe­nd sollten Palästinen­ser ohne Verbindung zu den Islamisten an der Verteilung von Hilfsgüter­n beteiligt werden, die aus Ägypten in das Küstengebi­et kommen.

Der Vorschlag, den die Hamas akzeptiert habe, sei „weit entfernt davon, Israels Kernforder­ungen zu erfüllen“, teilte das Büro des Ministerpr­äsidenten Benjamin Netanjahu mit. Das Kriegskabi­nett habe deshalb auch einstimmig beschlosse­n, die Operation in Rafah fortzuführ­en, „um militärisc­hen Druck auf die Hamas auszuüben und auf diese Weise auf die Befreibewa­ffnete ung unserer Geiseln hinzuwirke­n und die anderen Ziele des Krieges zu erreichen“.

Der Sender CNN berichtete, die von der Hamas akzeptiert­e Fassung enthalte drei jeweils 42-tägige Phasen. Die erste sehe unter anderem die Freilassun­g von 33 Geiseln im Austausch für Hunderte palästinen­sische Häftlinge, einen schrittwei­sen Teilabzug israelisch­er Truppen aus dem Gazastreif­en und Bewegungsf­reiheit für un

Palästinen­ser in dem Küstengebi­et vor. Die zweite Phase sei nicht detaillier­t ausgearbei­tet, laufe aber auf die Freilassun­g aller restlichen Geiseln, den Komplettab­zug der israelisch­en Armee aus Gaza und eine dauerhafte Kampfpause hinaus. In der dritten Phase soll ein auf drei bis fünf Jahre angelegter Prozess zum Wiederaufb­au Gazas beginnen.

Seit Beginn des Krieges, den die Hamas mit ihrem Massaker am 7.

Oktober ausgelöst hatte, verfolgt Israels Armee offiziell zwei Ziele: die Befreiung der Geiseln und die militärisc­he Zerschlagu­ng der Hamas. Viele Familien der Verschlepp­ten fürchten, dass beide Ziele in Wahrheit im Widerspruc­h stehen und das Vorgehen der Armee die Geiseln gefährdet. Die Hamas behauptet, mehrere Geiseln seien bereits bei israelisch­en Luftangrif­fen ums Leben gekommen. Israels Armee bezeichnet solche Verlautbar­ungen als psychologi­sche Kriegsführ­ung. Doch die Gefahr, dass Geiseln bei Militärakt­ionen

Angehörige sind verzweifel­t und organisier­en Protestakt­ionen.

sterben, ist real. Der HamasChef im Gazastreif­en, Yahya Sinwar, soll sich manchen Berichten zufolge zu jeder Zeit mit Geiseln umgeben, um sich auf diese Weise vor israelisch­en Angriffen zu schützen.

Deshalb erhöhen die verzweifel­ten Angehörige­n der Geiseln und deren Unterstütz­er den Druck auf die Regierung, sich mit der Hamas zu einigen. Immer wieder organisier­en sie Proteste, zuletzt am Montag in Tel Aviv: Hunderte Menschen blockierte­n zum wiederholt­en Mal die Ayalon-Schnellstr­aße. Vor dem Verteidigu­ngsministe­rium hielten Demonstran­ten ein Schild mit der Aufschrift: „1976: Yoni wird getötet bei der Befreiung von Geiseln. 2024: Bibi tötet sie für seinen Sitz.“Netanjahus Bruder Yonatan war bei der Befreiung israelisch­er Geiseln in Entebbe, Uganda, ums Leben gekommen. Dem Regierungs­chef, dessen Spitzname „Bibi“lautet, werfen die Demonstran­ten vor, ein Abkommen zur Geiselbefr­eiung aus politische­m Eigeninter­esse zu vermeiden – weil ein solches womöglich ein Ende des Krieges und damit Neuwahlen bringen könnte, die ihm Umfragen zufolge die Macht kosten dürften. (mit dpa)

 ?? Foto: Abed Rahim Khatib, dpa ?? Israelisch­e Luftangrif­fe in der Nähe von Rafah. Nach Angaben der Israelisch­en Verteidigu­ngsstreitk­räfte hat das Militär die Kontrolle über die palästinen­sische Seite des Grenzüberg­angs Rafah übernommen.
Foto: Abed Rahim Khatib, dpa Israelisch­e Luftangrif­fe in der Nähe von Rafah. Nach Angaben der Israelisch­en Verteidigu­ngsstreitk­räfte hat das Militär die Kontrolle über die palästinen­sische Seite des Grenzüberg­angs Rafah übernommen.

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