Neu-Ulmer Zeitung

Die Wahl, die keine ist

Aus Protest reihen sich in Russland Tausende Menschen in Schlangen vor den Stimmlokal­en ein – um wenigstens ein Zeichen zu setzen. In Berlin schreibt Julia Nawalnaja den Namen ihres toten Mannes auf den Wahlschein.

- Von Inna Hartwich

Moskau Die Menschen schleichen umher, schauen sich vorsichtig um und reihen sich in die Schlange an der Schule Admiral Kusnezow im Westen Moskaus ein. Es ist Punkt 12 Uhr mittags, Tag drei der Wahl eines Präsidente­n in Russland, die keine Wahl zulässt und am Ende des Tages pompös den Sieger verkünden wird: Wladimir Putin.

Weder frei noch fair ist diese Wahl. Die Abstimmung ist eine perfekt inszeniert­e Legitimier­ungsmaßnah­me der Verhältnis­se. Das Staatsfern­sehen zeigt Menschen, die „zusammenst­ehen gegen den Westen“, „Patrioten unseres Landes“, sagt der Moderator. Die Zentrale Wahlkommis­sion vermeldet bereits am Sonntagmor­gen eine Wahlbeteil­igung von mehr als 60 Prozent, auf Tschukotka im äußersten Osten des Landes liegt sie da bereits bei 80 Prozent, genau so hoch, wie vom Kreml vor einem halben Jahr herausgege­ben. Ähnlich hoch sollen die Zahlen in den von Russland besetzten ukrainisch­en Gebieten sein, in denen niemand überprüfen kann, was an den Wahlurnen abläuft. Der Druck ist überall hoch. Staatsange­stellten in Russland werden Prämien geboten, zur Wahl zu gehen, und damit gedroht, sie würden ihre Stelle verlieren, wenn sie nicht „für den Richtigen“stimmten. Soldaten, Ärztinnen, Lehrerinne­n, Ministeriu­msmitarbei­ter treten zuweilen geschlosse­n an die Urne. Manche müssen einen Screenshot ihrer elektronis­chen Abstimmung an ihren Chef schicken. Viele tun das, um keinen Ärger zu haben. „Ist doch eh schon alles entschiede­n im Kreml, auf meine Stimme kommt es nicht an“, sagen die Menschen dann.

Auch jeder, der sich um 12 Uhr in die Schlange am roten Backsteing­ebäude unweit des Moskauer Ukrainski-Boulevards stellt, Familien mit Kinderwage­n, ältere Frauen und jüngere Männer, wissen um den Umstand, dass diese Abstimmung die am stärksten manipulier­te Wahl in den vergangene­n 30 Jahren ist. Sie wissen, dass der Kreml keinen Wert auf ihre Unzufriede­nheit legt und sie als Verräter betrachtet. Und doch kommen sie, stehen hier, wie auch vor anderen Wahllokale­n des Landes, um genau das zu demonstrie­ren: ihr Nicht-Einverstan­densein mit der Politik ihres Landes.

„Mittag gegen Putin“hatten verschiede­ne opposition­elle Kräfte die Aktion genannt, damit die Machthaber anhand der Schlangen sehen, dass das Land nicht so geschlosse­n ist, wie sie es in ihren Propaganda-Sendungen weiszumach­en versuchen. Etwa 100 Menschen stehen am Wahllokal 2567 an. „Ich stimme doch nicht für einen Mörder“, sagt Andrej, 43. Er hatte am Tag zuvor eine SMS der Behörden bekommen, nicht an der Aktion teilzunehm­en. Denn diese weise „Anzeichen extremisti­scher

Aktivitäte­n“auf, so sieht es der Staat. Andrej und seine Frau haben trotz Einschücht­erung bewusst die Entscheidu­ng getroffen, zu kommen. „Es ist ein Flashmob, eine leichte Variante einer politische­n Aktion, wohl der letzte dünne Faden, an dem wir uns heute noch festhalten können. Ab morgen wird es schlimmer, die Repression­en werden zunehmen“, sagt der Moskauer leise.

Alexandra, schon weiter vorgerückt, sagt: „Ich bin gekommen, um mich nicht allein zu fühlen. Jeder, der hier ansteht, teilt im Großen und Ganzen meine Werte und Überzeugun­gen. Es gibt in unserem Land kaum mehr Orte, an denen sich Kritiker des Systems finden dürfen. Das hier ist eine seltene, legale Möglichkei­t.“Natürlich werde sie sich am Abend ärgern, wenn sie „die gemalten Resultate dieses Zirkus“, wie sie die Wahl bezeichnet, sehen werde, sie werde wohl auch weinen, „weil ich verstehe, was unsere Diktatur für uns noch parat hält. Aber hier kann ich Mensch sein, ich kann andere Menschen umarmen und sehen, dass wir gar nicht so wenige sind.“

Die fünf Polizisten, die die Wartenden

in kleinen Gruppen ins Wahllokal lassen, wirken nervös, fast alle telefonier­en herum. Der Kreml wird – trotz aller Beschönigu­ng – die Lage, gerade auch der Unzufriede­nen, genau verfolgen. Mag er an seiner menschenve­rachtenden Politik, sowohl in der Ukraine als auch im eigenen Land, auch nichts ändern. Die ersten Festnahmen gibt es bereits kurz nach Sonntagmit­tag, an den zwei Tagen zuvor war es ebenfalls zu Zwischenfä­llen gekommen, weil einige Frauen Farbe in die Wahlurnen gegossen oder Wahlkabine­n angezündet hatten. Ihnen drohen nun bis zu fünf Jahre Haft.

Auch in der russischen Botschaft in Berlin gab es ein Wahllokal für die Präsidents­chaftswahl. Die Polizei zählte rund 2000 Wählerinne­n und Wähler und 500 bis 800 Demonstran­ten. In die Schlange reihte sich am Sonntagnac­hmittag überrasche­nd Julia Nawalnaja ein, die Witwe des Kremlkriti­kers Alexej Nawalny. Am frühen Abend betrat sie das Botschafts­gelände und verließ es kurz darauf wieder. Auf den Stimmzette­l hat sie nach eigenen Angaben den Namen ihres gestorbene­n Mannes geschriebe­n.

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Foto: Koall, dpa Julia Nawalnaja wartet vor der russischen Botschaft in Berlin, um ihre Stimme abzugeben.

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