„Die Menschen fühlen sich mehr belastet“
Interview Renate Köcher ist Chefin des Meinungsforschungsinstituts Allensbach. Im Interview spricht sie über die Stimmung im Land, den Umgang mit Ungeimpften, und warum wir gelassener auf die Proteste reagieren sollten.
Frau Köcher, wie geht es Deutschland im Augenblick denn?
Renate Köcher: Die Stimmungslage ist sehr verhalten. Sie ist im Moment nicht besser als vor einem Jahr. Die Optimisten sind in der Minderheit. Die Mehrheit schaut skeptisch oder sogar mit ausgeprägten Befürchtungen dem neuen Jahr entgegen. Vor allem aber sieht man, dass Stresssymptome häufiger werden. Die meisten Menschen fühlen sich einfach mehr belastet.
Was belastet die Menschen am meisten? Köcher: Nicht längerfristig planen zu können. Nie wissen, wie das Regelwerk in den nächsten Wochen aussieht. Das Gefühl, nie aus der Pandemie rauszukommen, weil eine Welle die andere ablöst. Gerade für Eltern bleibt der Verlust an Planungssicherheit ein Riesenthema, auch wenn Schulen und Kinderbetreuung im Großen und Ganzen wieder zum Regelbetrieb zurückgekehrt sind. Aber von einer wirklich verlässlichen Schule sind wir natürlich noch weit entfernt. Auch das Regelwerk für Reisen belastet viele, denn unser Radius ist seit zwei Jahren doch sehr eingeschränkt. Und Homeoffice wird auch keineswegs von allen als schöne neue Arbeitswelt empfunden. Der direkte Kontakt mit Kollegen fehlt vielen. Virtuelle Kontakte können das nur sehr begrenzt ersetzen.
Wir alle hatten nach dem ersten Corona-Jahr die Hoffnung, das sei nur eine Episode und es gehe bald wieder zurück ins alte Leben. Diese Hoffnung scheint sich zu zerschlagen. Was macht das mit der Gesellschaft? Verändert sich da etwas nachhaltig?
Köcher: Wirtschaftlich ist die große
Mehrheit der Bevölkerung bemerkenswert gut durch die Pandemie gekommen. Die Bilanz der eigenen wirtschaftlichen Lage fällt heute im Durchschnitt nicht schlechter aus als vor ein, zwei Jahren. Die große Mehrheit sieht auch kein Risiko für den eigenen Arbeitsplatz. Aber die Menschen wünschen sich die Rückkehr zum normalen Leben, zu mehr
Planungssicherheit und Unbeschwertheit. Die von der Pandemie geprägte Gesellschaft wird auch in vielerlei Hinsicht negativ erlebt. Die Mehrheit hat das Gefühl, die Gesellschaft habe sich negativ verändert, sie sei aggressiver, rücksichtsloser, ichbezogener geworden. Zurzeit untersuchen wir die Auswirkungen auf die psychische Verfassung: Wie groß ist der Anteil, den die Situation stark belastet, wie verbreitet sind psychosomatische Störungen, was macht es mit den Menschen, wenn sie täglich mit Gefahrenmeldungen konfrontiert sind?
Teilen Sie den Eindruck, dass die Gesellschaft das Diskutieren verlernt hat? Köcher: Ein abschließendes Urteil würde ich noch nicht fällen. Aber der Anteil derer, die das Gefühl haben, man müsse vorsichtig sein, seine Meinung zu äußern, hat zugenommen – das ist so. Gerade beim
Thema Impfen gibt es harte Kontroversen, die weit in Familien und Freundeskreise hineinreichen. Bei den Geimpften breitet sich die Überzeugung aus, dass man die aktuelle Situation den Ungeimpften zu verdanken hat. Die Geimpften haben immer weniger Verständnis für das Verweigern einer Impfung.
Viele sprechen von einer Spaltung der Gesellschaft. Sie auch?
Köcher: Wir haben eine Polarisierung in einer wichtigen Frage, bei der es hart auf hart geht. Eine generelle Spaltung der Gesellschaft sehe ich aber noch nicht. Dafür braucht es mehr als einen Punkt, an dem sich die Debatten zuspitzen. In vielen Fragen gibt es in der Gesellschaft durchaus einen breiten Konsens.
Wie weit sind soziale Verhältnisse mitverantwortlich für den Umgang mit der Pandemie, zum Beispiel für die Bereitschaft, auf Impfaufrufe zu reagieren? Köcher: Das ist ausgeprägt schichtgebunden. Den höchsten Impfstatus haben die höheren sozialen Schichten, einen sehr hohen die Mittelschicht, während die schwächeren sozialen Schichten klar zurückliegen. Besonders in Gebieten mit einem hohen Anteil mit Migrationshintergrund ist das eine besondere Herausforderung, auch wegen Sprachbarrieren und anderer kultureller Prägungen im Umgang mit Gesundheit und Gesundheitsrisiken. Ärzte, die in solchen Stadtteilen in Großstädten ihre Praxen haben, schildern uns in Interviews sehr anschaulich die Barrieren, die da oft zu überwinden sind.
Was heißt das für die Politik? Was kann sie machen, um diese Menschen zu erreichen?
Köcher: Es ist wichtig, in diese Gebiete mit niedrigschwelligen Angeboten, aber auch mit Anreizen hineinzugehen. Das hat man schon im Frühjahr gesehen.
Wie groß ist der Anteil derer, die der Impfstrategie der Regierung grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen? Köcher: Der Anteil der Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, hat sich lange Zeit kaum verändert. Vor einem knappen Jahr haben wir das zum ersten Mal untersucht, da lag dieser Anteil bei 14 bis 15 Prozent und schwankte dann bis Ende Oktober in der engen Bandbreite zwischen elf und 14 Prozent. Erst jetzt verändert sich etwas, weil es für Ungeimpfte mühsam geworden ist. Aktuell haben wir in den Umfragen noch sieben Prozent, die wirklich entschlossen sind, sich nicht impfen zu lassen. Was mich übrigens immer stört: Dass die Impfquote immer auf der Basis der gesamten Bevölkerung ausgewiesen wird, also auch diejenigen mit einschließt, die sich bis vor kurzem gar nicht impfen lassen konnten oder es auch jetzt noch nicht können wie beispielsweise Kinder. In der erwachsenen Bevölkerung ist die Impfquote seit langem höher als die Zahlen, die immer kursieren.
Die Bundesregierung hat die Impfpflicht lange ausgeschlossen. Jetzt fliegt ihr dieses Versprechen um die Ohren. Welche Folgen hat das für die Akzeptanz der Corona-Politik? Köcher: Die Bevölkerung selber hat in dieser Frage ihre Meinung geändert. Wir haben vor einem Jahr zum ersten Mal in unseren Untersuchungen nach der Impfpflicht gefragt. Da war die große Mehrheit gegen eine Impfpflicht. Je mehr dann geimpft waren und je mehr die Pandemie neu eskalierte, desto mehr wuchs die Zustimmung zu einer Impfpflicht. Heute wird das von der Mehrheit unterstützt. Die Frage ist eher, wie die Minderheit reagiert, die sich überfahren fühlt.
Wir haben mittlerweile in vielen Städten Protestdemonstrationen. Wie soll man damit umgehen? Wie viel Extremismus steckt in diesen Aufzügen? Köcher: Es ist das eine, dass Gruppierungen, die ein gestörtes Verhältnis zu Staat und Gesellschaft haben, aufspringen und den Protest für ihre Zwecke nutzen. Das andere ist aber: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht alle, die bei Demonstrationen mitmarschieren, zu Radikalen erklären. Wir sind ein freies Land und jeder kann eine andere Meinung vertreten.
„In der erwachsenen Bevölkerung ist die Impfquote seit langem höher als die Zahlen, die immer kursieren. Über die Impfstatistik
„Wir müssen aufpassen, dass wir nicht alle, die bei Demonstrationen mitmar‐ schieren, zu Radikalen er‐ klären. Wir sind ein freies Land und jeder kann eine andere Meinung vertreten.“Über Proteste gegen die Coronapolitik
Die Schwierigkeit liegt darin, dass sich das in diesen Demonstrationszügen nicht immer auseinanderdividieren lässt. Der Protest mischt sich spontan, aus den unterschiedlichsten Motivlagen. Wäre Ihr Rat, damit gelassener umzugehen?
Köcher: Wenn sie friedlich sind, würde ich ganz gelassen damit umgehen. Das reine Mitmarschieren verträgt sich mit unserer Grundordnung, Randale und Fackelzüge vor den Privathäusern von Politikern nicht.
Die Ampel-Koalition war kaum im Amt, da musste sie ihre Entscheidung, trotz anschwellender vierter Welle die epidemische Notlage zu beenden, revidieren. Würden Sie von einem Fehlstart sprechen? Oder verzeihen die Bürger so etwas?
Köcher: Es war ein belasteter Start. Es hat mich gewundert, dass es mit das Erste war, die epidemische Notlage auszusetzen. Das hätte ich nicht als ersten Tagesordnungspunkt gewählt, genauso wenig wie dann die Legalisierung von Cannabis. Die Schwerpunkte müssen doch wohl andere sein. Ich bin sehr gespannt, wie sich der Rückhalt für die Koalition entwickeln wird. 2021 war es so, dass die letzte Bundesregierung im ersten Quartal enorm an Zustimmung verloren hat, weil sie die Pandemie nicht richtig in den Griff bekam. Die Leute waren ständig mit neuen Kommuniqués der Ministerpräsidentenrunden und des Kanzleramtes konfrontiert. In dieser Zeit breitete sich das Gefühl aus, dass die Politik nicht effizient und zielführend arbeitet, zwar Entscheidungen trifft, aber die Umsetzungsmöglichkeiten und die Auswirkungen der Maßnahmen nicht ausreichend berücksichtigt.
... dazu kam der Ärger über den schleppenden Anlauf der Impfaktionen im Frühjahr.
Köcher: Wir hatten Anfang des Jahres die besondere Situation, dass das Impfen nur langsam vorankam. Diesmal haben wir ein bemerkenswertes Tempo. Was die Hausarztpraxen leisten, davor kann man nur den Hut ziehen. Sie führen vor, um wie viel besser man vorankommt, wenn man intakte, arbeitsfähige Strukturen einbezieht, statt neue staatliche Strukturen aufzubauen. Von daher kann man im Moment schlecht abschätzen, ob sich in der Bevölkerung erneut ein Frust breitmachen wird, der sich dann gegen die neue Koalition wendet. In unserer Umfrage von Anfang Dezember hatte die Koalition nur etwas Federn gelassen, insgesamt zwei Prozentpunkte.
Interview: Dieter Löffler
und Stefan Lutz
Renate Köcher Die 69‐jährige Mei‐ nungsforscherin ist Geschäftsfüh‐ rerin des Instituts für Demoskopie Al‐ lensbach. Die Volkswirtin und So‐ ziologin leitete das Meinungsfor‐ schungsinstitut ab 1988 zusam‐ men mit Elisabeth Noelle‐Neumann und seit deren Tod 2010 allein.