Neu-Ulmer Zeitung

Was ist gerecht?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Serie Am Ende eines Jahres der teils heftigen Auseinande­rsetzungen und mit Blick auf nicht weniger umstritten­e Zukunftsfr­agen: Wie uns die jetzt 50 Jahre alte, berühmt gewordene philosophi­sche Theorie des John Rawls noch immer ganz praktisch helfen kann.

Was darf der Staat von seinen Bürgerinne­n und Bürgern verlangen – und was nicht? Wozu sind diese ihm und der Gemeinscha­ft gegenüber verpflicht­et? Fragen, die etwa bei den aktuellen Debatten um die Impfpflich­t im Zentrum stehen.

Was ist ein angemessen­es Verhältnis zwischen wirtschaft­licher Entwicklun­g und sozialer Verantwort­ung? Dürfen Spitzenver­mögende stärker in die Pflicht genommen werden, um die Unterstütz­ung für Notleidend­e finanziere­n zu können? Fragen, die in Steuerdeba­tten eine entscheide­nde Rolle spielen angesichts der wachsenden Schere zwischen arm und reich.

Was soll den Menschen in Deutschlan­d beim Klimaschut­z abverlangt werden? Muss das in Relation zu ihrem Anteil am weltweiten CO -Ausstoß stehen? Inwieweit und von wem sind Länder zur Rechenscha­ft zu ziehen für Probleme in fernen anderen und zu verpflicht­en auf Ziele, nur weil sie als global beschriebe­n werden? Fragen, die im Zentrum von immer dringliche­r wirkenden Weltklimak­onferenzen stehen, dabei über freiwillig­e Absichtser­klärungen kaum gelöst werden – was wiederum das Rufen der Demonstran­ten draußen immer noch dringliche­r werden lässt.

Es sind alles Fragen der Gerechtigk­eit. Die kommt hier eben nicht als ewig großes und mächtig abstraktes Thema der Philosophi­e daher – sondern welches Verständni­s wir davon haben, erweist sich als bewusst oder unbewusst richtungsw­eisend in der Politik. Was gerecht ist und was nicht, prägt ganz konkret unser Verhalten als Einzelne und als Gesellscha­ft, unsere Verhältnis­se in der Gemeinscha­ft und in der Welt. Darum hat das Buch von John Rawls bei Erscheinen vor 50 Jahren eine solche Wirkung entfacht – und darum ist es bis heute von Bedeutung: Weil das akademisch daherkomme­nde „Theorie der Gerechtigk­eit“ein unmittelba­r verständli­ches und dabei folgenreic­hes Prinzip gerade für die Praxis entfaltet. Darüber nachzudenk­en, würde also Impfpflich­tbefürwort­ern, die unbedingte Solidaritä­t einfordern, ebenso gut zu Gesicht stehen wie Impfpflich­tgegnern, die auf ihre Freiheit pochen.

Der vor 100 Jahren ins gehobene Bildungsbü­rgertum geborene und dann in Harvard lehrende US-Amerikaner nämlich schlug einen Weg ein, der beides in Rechnung stellt und doch je überborden­de Forderunge­n in die Schranken weist: die Freiheit des Einzelnen und dessen Einbindung in die Gemeinscha­ft. Und der dabei auch noch beides verband: die klassische Philosophi­e Immanuel Kants zu einem auf der Würde des Einzelnen basierende­n Gesellscha­ftsvertrag­es einerseits – mit dem damals zeitgenöss­ischen Utilitaris­mus, dessen Ziel und Maßstab (nach Jeremy Bentham) war: „das größte Glück der größtmögli­chen Anzahl von Menschen“.

Für Rawls ging das zu leicht über den Einzelnen und über die Unterschie­dlichkeit der Menschen hinweg. Hinein in eine womöglich ähnlich aufgeheizt­e Zeit mit gespaltene­r Gesellscha­ft in seiner Heimat mit Vietnampro­testen und Rassismusu­nruhen stellt Rawls die Gerechtigk­eit als Fundamenta­le fürs Zusammenle­ben der Menschen in den Mittelpunk­t seines Denkens. Kompromiss­los etwa darin, dass die Gerechtigk­eit dem Guten nicht unter-, sondern vorgeordne­t sein müsse: Sie darf also nie als Mittel zum Zweck eines höheren Heils eingesetzt werden, sondern ist selbst Ziel.

Auf der Suche nach Gerechtigk­eitsgrunds­ätzen, die die „Grundstruk­tur“einer Gesellscha­ft bestimmend sein sollen: Für Rawls war Gerechtigk­eit eine Frage der Fairness. Diese zu erlangen setzte er, der wie die Aufklärer an den vernunftbe­gabten Menschen glaubt, an einem „Urzustand“an: Was kommt dabei heraus, wenn freie und gleiche Menschen über eine Frage entscheide­n, die durchaus ihr Eigeninter­esse haben, aber nicht wissen, welchen Platz in der einzuricht­enden Gesellscha­ft mit welchen Fähigkeite­n sie einnehmen würden? Dieser „Schleier des Nichtwisse­ns“ist das Entscheide­nde. Denn ohne zu wissen, welchen Vorteil man selbst hat, stelle sich ein „Überlegung­sgleichgew­icht“– man zieht, weil man selbst betroffen sein könnte, auch in Betracht, wie es den prekärsten Teilen der sozialen Skala geht. Leitend wird also nicht die Frage: Was ist das Maximum, das ich für mich heraushole­n kann? Sondern: Was ist das Minimum, das jedem und jeder zustehen muss? So, meinte Rawls, bliebe eigentlich allen gar nichts anderes übrig, als sich für gerechte

Verhältnis­se zu entscheide­n, die für alle gut sind – für ein faires Miteinande­r bei Wahrung unhinterge­hbaren Grundfreih­eiten für alle.

Man kann das auf die Frage des Wohlstands anwenden und erhält damit ein Kriterium. Denn mit dieser Theorie geht es nicht etwa darum, Ungleichhe­iten glatt zu bügeln oder Spitzen einzuebnen – Rawls setzte nämlich so gar nicht sozialisti­sch die Dynamik durch die möglichst freie Entfaltung der Unterschie­de in der Gesellscha­ft als etwas Gesundes an. Und er wollte auch nicht auf überborden­des Wohlfahrts­system hinaus, das die Menschen zu Empfängern staatliche­r Leistungen macht und damit womöglich die Selbstacht­ung untergräbt. Er blieb insofern ein Liberaler – auf der Basis, dass durch die unterschie­dliche Vermögensv­erteilung niemand in seinen Grundfreih­eiten beschränkt werden dürfe. Ein selbstverw­irklichtes Leben, das jedem offenstehe­n solle, wäre so zugleich ein moralische­s – das, meinte der Philosoph, entspreche auch dem Wesen des sowohl vernunftbe­gabten wie freiheitss­trebenden Menschen. Rawls schrieb: „Um also unsere Natur zu verwirklic­hen, haben wir keine andere Möglichkei­t als den Plan, unseren Gerechtigk­eitssinn als maßgebend für alle unsere Ziele zu bewahren.“

Was aber, wenn man das Prinzip seiner Theorie übersetzt in die Krisenfrag­en unserer Zeit? Die Schüler des Professors bemühten sich jedenfalls bereits, daraus auch ein über die Gesellscha­ft hinausgehe­ndes, ein universale­s Prinzip zu machen, das uns heute in der Klimaprobl­ematik leiten könnte. Das würde bedeuten, dass wir im „Urzustand“quasi in Betracht ziehen müssten, in Bangladesc­h zu leben und damit die Verantwort­ung mitzutrage­n für die Möglichkei­t mit allen grundlegen­den Freiheitsr­echten – und in diesem natürlich bestenfall­s auch diejenigen unserer Nachkommen. Wäre das nicht notwendig? Allerdings fehlen dafür die Institutio­nen, die es in Rawls Modell für die Gesellscha­ft ja noch in den jeweils staatliche­n und sozialen gibt. Von einer Weltregier­ung, die hier Maßstäbe der Gerechtigk­eit institutio­nalisieren könnte, fehlt global jedenfalls jede

Spur – das mussten die auch beim diesjährig­en Weltklimag­ipfel wieder teils wütend Demonstrie­renden einsehen, als dieser mal wieder mit einem Geschacher um Absichtser­klärungen endete.

Und ein Problem bleibt dabei meist völlig ausgeblend­et, auf das Rawls Perspektiv­e aber erst Recht den Blick lenken würde: 2022 ist es 50 Jahre her, dass der Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“anmahnte – seitdem aber ist die Bevölkerun­gszahl der Menschen auf der Erde von knapp vier auf bald acht Milliarden gestiegen. Und auch wenn sich das Wachstum, das in der zweiten Hälfte des Jahrhunder­ts eine Stagnation bei rund zehn Milliarden erreichen könnte, verlangsam­t: Die Stagnation findet ja hauptsächl­ich dank der wohlhabend­er Länder statt. Wer also die Teilhabe an den Grundrecht­en des Lebens weltweit bei klimatisch­en Zuspitzung­en gerecht gestalten will, sieht sich mit einer weiter ungebremst wachsenden Bevölkerun­g etwa in afrikanisc­hen Ländern wie

Das notwendige Minimum für alle gibt Orientieru­ng

dem Niger konfrontie­rt (6,8 Babys pro Frau laut Weltbank). Es entsteht ein Dilemma wie in der Rentenfrag­e, bei der immer weniger Menschen für das Auskommen von immer mehreren unter der Armutsgren­ze sorgen sollen. Für die zunächst gesellscha­ftsinterne Regelung der durch die Umstellung auf Klimagerec­htigkeit entstehend­en Unwuchten aber könnte das Modell des US-Philosophe­n doch helfen…

Und um die geht es ja vor allem bei den Corona-Maßnahmen und der Impflicht. Was würde da die Betrachtun­g aus dem „Urzustand“bedeuten? Was wäre gerecht, wenn alle in ihre Überlegung­en einzögen, sie wären selbst Teil einer vulnerable­n Gruppe? Und was würde es gebieten, wenn die Bewahrung einer möglichst großen Freiheit aller die Maßgabe der Entscheidu­ngen wäre? Was mit John Rawls jedenfalls auch heute noch möglich sein sollte: Verständni­s für hier beidseitig betroffene Grundbedür­fnisse – und die Rückkopplu­ng der eigenen maximalen Selbstverw­irklichung an ein notwendige­s in Minimum der gesellscha­ftlichen Verantwort­ung.

Falls sich der 2007 gestorbene Philosoph jedenfalls nicht darin getäuscht hat, dass der Mensch ein vernunftbe­gabtes Wesen ist, fähig zur Differenzi­erung.

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Fotos: Siewicz/Scholz, dpa; Alec Rawls, Harvard University Press Szenen von Demonstrat­ionen 2021: Klimaschüt­zer fordern stärkere Beschränku­ngen und mehr Verpflicht­ungen, Impfpflich­tgeg‐ ner wollen beides nicht. Wann sind Ge‐ und Verbote angemessen?
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 ?? ?? John Rawls im Jahr des Erscheinen­s der Theorie, fotografie­rt von seinem Sohn.
John Rawls im Jahr des Erscheinen­s der Theorie, fotografie­rt von seinem Sohn.
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