Ein Abgang in aufgeregten Zeiten
Justiz Andreas Voßkuhle prägte das Bundesverfassungsgericht, das höchste deutsche Gericht, und sorgte für heftige Debatten. Mit einem umstrittenen Urteil hat er sich nun verabschiedet. Der Vorwurf, er wolle Politik machen, wird ihn auch künftig begleiten
Augsburg/Karlsruhe Reiner Schmidt erinnert sich noch gut. Der Assistent, den ihm ein Münchner Kollege da für seinen Lehrstuhl empfohlen hatte, war ein Jurist mit besonderen Talenten. „Mir war schnell klar, dass er in die Bundesliga gehört“, sagt Schmidt, der mehr als 30 Jahre als Professor für Öffentliches Recht an der Universität Augsburg gelehrt hat. Dass dieser junge, frisch promovierte Mann es einmal bis an die Spitze des Bundesverfassungsgerichtes schaffen würde, war damals zwar noch nicht absehbar. Fahrt aufgenommen aber hat die Karriere von Andreas Voßkuhle Anfang der 90er Jahre in Augsburg, wo er sich später auch habilitierte – bei Reiner Schmidt, dem liberalen Staatsrechtslehrer,
zu dem er bis heute freundschaftlichen Kontakt hält.
Der Paukenschlag, mit dem Andreas Voßkuhle sich aus Karlsruhe verabschiedet hat, kam für seinen früheren Mentor daher nicht überraschend. Das Verfassungsgericht, findet Schmidt, „hätte auch schon früher und härter zuschlagen können“. Nun aber, da es sich im Streit um die Milliardenprogramme der Europäischen Zentralbank zum ersten Mal gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) gestellt hat, ist weiterer Ärger absehbar. Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, droht ihrem Heimatland mit einem Vertragsverletzungsverfahren, weil sie die bewährte Hierarchie in EU-Europa verteidigen will – und Voßkuhle selbst bekommt plötzlich Beifall aus einer Ecke, aus der er ihn eigentlich gar nicht haben will.
Die nationalkonservative Regierung in Polen feiert sein Gericht und ihn für „eines der wichtigsten Urteile in der Geschichte der Europäischen Union“. Der Einfluss der EUBürokratie, des europäischen Parlaments und des gemeinsamen Gerichtshofes, soll das heißen, hat Grenzen. Engere Grenzen womöglich, als es bisher scheinen sollte. Voßkuhle revanchierte sich dafür mit der spitzen Bemerkung, das polworden
Verfassungsgericht sei für ihn kein ernst zu nehmendes Gericht mehr. „Das ist eine Attrappe.“
Im Kern geht es um die Frage, wie frei die Europäische Zentralbank (EZB) agieren darf, wenn sie für dreistellige Milliardenbeträge Staatsanleihen aufkauft und den Mitgliedstaaten der Eurozone damit zu billigem Geld verhilft. Lange Zeit hat das Bundesverfassungsgericht die großzügige Rechtsprechung des EuGH dazu leise murrend akzeptiert und nur kleinere Korrekturen angemahnt, etwa beim Umfang der sogenannten Rettungsschirme oder bei den Mitbestimmungspflichten des Bundestages.
Mit seinem Urteil vom 5. Mai allerdings, analysiert Schmidt, „zeigt es nicht nur die Zähne, sondern es beißt auch zu“. Die europäische Notenbank, argumentieren die Karlsruher Richter, habe ihr Mandat überspannt. Wenn sie ihre Politik nicht besser begründet und erklärt, muss die ihr untergeordnete Bundesbank im August den Ankauf deutscher Staatsanleihen einstellen.
Auch wenn Voßkuhle nur einer von acht Richtern in einem Senat ist, der diese Entscheidung mit großer Mehrheit getroffen hat, so zielt die Kritik vor allem auf ihn, den Präsidenten und die protokollarische Nummer fünf der Bundesrepublik. Seinem früheren Professor Schmidt hat er vor kurzem einige besonders harte Kommentare zugeschickt. Tenor: Eine Kampfansage an Europa. Karlsruhe habe, moniert die renommierte Financial Times, „eine Bombe unter die europäische Rechtsordnung gelegt“. Der frühere EuropaElmar Brok, ein alter Vertrauter von Bundeskanzlerin Angela Merkel, formuliert es noch deftiger: Weltfremd und gefährlich sei das Urteil und von einem seltsam germanozentrischen Denken geprägt – als stünde nicht die gemeinsame europäische Idee im Zentrum Europas, sondern eine wie auch immer geartete deutsche Befindlichkeit. Und überhaupt: Handeln die Notenbanken in den USA und Japan denn in Krisenzeiten nicht genauso wie die Europäische Zentralbank?
Das höchste deutsche Gericht trifft die Aufregung zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt, nämlich mitten in einem größeren personellen Umbruch mit einem Wechsel an der Spitze und zwei Neubesetzungen in den beiden Senaten. Andreas Voßkuhle selbst ist nach Ablauf seiner zehnjährigen Amtszeit als Gerichtspräsident nur noch geschäftsführend im Amt, bis der Bundespräsident seinen Nachfolger Stephan Harbarth formell ernannt hat. Der Senat des bisherigen Vizepräsidenten gilt als europa-freundlicher als der von Voßkuhle. Gleichzeitig allerdings muss der Neue künftig auch die Entscheidungen des alten loyal und überzeugend vertreten – ein diplomatischer Drahtseilakt, nach außen wie nach innen.
Niemand weiß das besser als Andreas Voßkuhle: „Wir sehen, dass unser Urteil viele bedrückt, und das freut uns nicht“, gesteht er in einem seiner seltenen Interviews in der
Andererseits dürften nationale Verfassungsgerichte in seltenen Ausnahmefällen und bei besonders gravierenden Kompetenzverletzunnische gen auf europäischer Ebene eben auch einschreiten – selbst auf die Gefahr hin, dass das dann als Ohrfeige für den Europäischen Gerichtshof interpretiert werde. Sein ehemaliger Professor Schmidt ist da ganz bei ihm: „Die Bewahrung hoch verschuldeter Länder vor dem Zusammenbruch ist nicht Aufgabe der EZB. Das ist die nobelste und wichtigste Pflicht der Parlamente der Mitgliedstaaten.“
Den Großkonflikt mit dem Europäischen Gerichtshof, den das Urteil des Bundesverfassungsgerichts heraufbeschworen hat, wird der 56-jährige Voßkuhle künftig von der Freiburger Universität aus beobachten, an die er jetzt als Professor zurückkehrt. Der Vorwurf, unter ihm sei das Verfassungsgericht politischer geworden, möglicherweise sogar zu politisch, wird ihn dabei weiter begleiten.
„Wenn Verfassungsrichter Politik machen wollen“, tobte schon 2013 der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich, „mögen sie bitte für den Deutschen Bundestag kandidieren. Am 22. September ist Bundestagswahl.“In der Debatte um eine stärkere Videoüberwachung nach dem Anschlag auf den Boston-Marathon hatte Voßkuhle den CSU-Mann aus Oberfranken damals öffentlich zur Besonnenheit aufgerufen, was der als unzulässige Einmischung in die Tagespolitik empfand. Richter sollten nur eines, stichelte der Jurist Friedrich gen Karlsruhe: „Recht sprechen.“
Der Versuchung, in die Politik zu wechseln oder zumindest in deren engere Peripherie, hat Voßkuhle alabgeordnete
Das 1951 gegründete Bundesverfassungsgericht ist Gericht und Verfassungsorgan – wie Bundespräsident, Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat. Es besteht aus zwei Senaten, denen je acht Richterinnen und Richter angehören. Die 16 Richterinnen und Richter werden je zur
Hälfte von Bundestag und Bundesrat auf zwölf Jahre gewählt. Eine Wiederwahl ist ausgeschlossen. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts leitet die Verwaltung des Gerichts und repräsentiert es nach außen. lerdings schon zweimal widerstanden. Nach dem Rücktritt von Christian Wulff und dem Rückzug von Joachim Gauck hätte er Bundespräsident werden können, beide Male jedoch lehnte er das Angebot nach kurzer Bedenkzeit ab. Obwohl er einst von den Sozialdemokraten für sein Richteramt in Karlsruhe nominiert worden war, hätte ihn auch die CDU-Frau Merkel gerne als ersten Mann im Staate gesehen. Vielen ihrer Parteifreunde in der Union dagegen war Voßkuhle schon früh suspekt, weil er sich offensiver und pointierter in politische Debatten einmischte als seine Vorgänger.
„Er ist kein Konservativer“, sagt auch der Innen- und Rechtsexperte der FDP, Stephan Thomae. „Er ist ein Modernisierer.“Stellvertretend dafür, findet der Abgeordnete aus dem Allgäu, stehe dabei das jüngste Urteil zur Sterbehilfe aus Voßkuhles Senat, nach dem das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben es auch erlaubt, dafür die Hilfe von Dritten in Anspruch zu nehmen. Entsprechend harsch fielen die Reaktionen aus dem kirchlich-konservativen Lager aus. Karlsruhe bereite der Kommerzialisierung der Sterbehilfe den Weg, war dabei noch einer der zurückhaltenderen Vorwürfe.
Voßkuhle steckt das mit der Gelassenheit eines Mannes weg, der mit sich im Reinen ist. Dass das Verfassungsgericht ein Fehlurteil treffe, sagt er, sei „eher unwahrscheinlich“. Für ihn hat sich mit der Entscheidung über die Anleiheprogramme der EZB ein Kreis geschlossen: Nachdem er 2008 als Vizepräsident ans Gericht berufen
In der jetzt zu Ende gehenden Amtszeit von Andreas Voßkuhle gehörten dem Gericht gleich drei Richter mit Augsburger Vergangenheit an: Voßkuhle war von 1992 bis 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Augsburg und hat sich dort 1998 auch habilitiert. Der ebenfalls ausscheidende Johannes Masing war von 1998 bis 2007 Professor in Augsburg – und von 1991 bis 1992 lehrte dort auch Peter M. Huber, der vor seinem Wechsel nach Karlsruhe Innenminister in Thüringen war. (AZ) war, beschäftigte sich sein erstes Verfahren mit dem Vertrag von Lissabon, der die Grundlagen der Zusammenarbeit in Europa neu formulierte – und auch in seinem letzten Verfahren ging es um eine für Europa existenzielle Frage, nämlich der nach dem Geld. Auch deshalb, darf man annehmen, wollte der gebürtige Detmolder nicht Bundespräsident werden: Im Verfassungsgericht, diesem schmucklosen Zweckbau im Herzen Karlsruhes, hatte er deutlich mehr Einfluss auf den Lauf der Dinge, als er von Schloss Bellevue aus je gehabt hätte.
Seine beiden schwarzen Limousinen, sagt Voßkuhle, werde er trotzdem nicht vermissen – als Professor in Freiburg hat er keinen Anspruch auf einen Dienstwagen und wohl auch keinen Bedarf mehr. „Was ich
Seine Karriere nahm in Augsburg Fahrt auf
Das Bundesverfassungsgericht: Hüter des Grundgesetzes
Bundespräsident wollte er nicht werden
vermissen werde: mit den Kollegen tagelang über eine schwierige Rechtsfrage zu diskutieren, in einem kleinen Raum, sehr eng, sehr intensiv, in einer Art und Weise, die ich vorher noch nicht erlebt habe.“Um das Binnenklima zu verbessern und das Miteinander zu fördern, hat er für alle 16 Richter das „Du“eingeführt – lange Zeit undenkbar in der Bastion des Rechts mit ihren sehr selbstbewussten und mitunter auch sehr eigenwilligen Charakteren. Heute dagegen gehen die 16 Richter gemeinsam Ski fahren, besuchen zusammen Ausstellungen oder treffen sich zum Kochen – wie Kollegen in anderen Berufen auch.
Und dass der juristische Austausch auf hohem Niveau auch in Zukunft nicht zu kurz kommt – dafür sorgt schon der inzwischen emeritierte Professor Reiner Schmidt. Eine kleine Stiftung, die er gegründet hat, lädt seine ehemaligen Habilitanden einmal im Jahr zum Gedankenaustausch in seine oberfränkische Heimat ein. Junge, vielversprechende Juristen stellen dort ihre Arbeiten vor und diskutieren sie mit renommierten Kollegen. Im Stiftungsrat sitzt, unter anderem, jener Mann, dem sein Augsburger Professor schon früh die juristische Bundesligareife bescheinigte – Andreas Voßkuhle.