Merkel muss in China Klartext reden
Leitartikel Bisher spricht die Bundeskanzlerin die Lage in Hongkong zwar mahnend an, sie könnte aber mehr wagen. Und das hat sie US-Präsident Trump zu verdanken
Angela Merkel hat auf ihrer China-Reise bislang nur halb Klartext gesprochen. Die Kanzlerin ist für ihre zurückhaltenden Verhältnisse aber immerhin so weit gegangen, dass sie auf die Anliegen der Opposition in Hongkong hingewiesen hat. Mit ihrem Appell, Gewalt zu vermeiden und eine politische Lösung durch Dialog zu finden, durchbrach Merkel zumindest das Schweigen der Diktatoren. Die Deutsche setzte Regierungschef Li Keqiang so weit unter Druck, dass er versichern musste, Peking halte am Grundsatz „Ein Land, zwei Systeme“für die Sonderverwaltungszone fest.
Das mag aus Sicht der Oppositionellen um den 22-jährigen Charismatiker Joshua Wong viel zu wenig sein. Er hatte sich zuvor hilfesuchend an Merkel gewandt. Der Revoluzzer mit dem jugendlich wirkenden
Gesicht und den so schmalen Schultern erinnerte geschickt an die Herkunft der Kanzlerin aus Ostdeutschland und ihre Erfahrungen mit einer diktatorischen Regierung.
Das alles hat der prinzipiell zu intensiver Reflexion neigenden Merkel sicher zu denken gegeben, sodass sie sich durchrang, Halbklartext zu sprechen. Doch die CDU-Chefin hätte viel mehr wagen und den Kommunisten öffentlich die Leviten lesen können.
Welcher politische Spitzenrepräsentant könnte sich das außer Merkel glaubhaft herausnehmen? Sie hat mehr als dreizehneinhalb Jahre Kanzlerinnenschaft im Rücken und gilt nach den Totalausfällen in Washington und London noch vor dem französischen Staatschef Emmanuel Macron als die angesehenste politische Persönlichkeit der Welt. Dabei ist China auf das Wohlwollen Deutschlands stärker denn je angewiesen. Das Riesenreich wird ja vom kalten Handelskrieger Donald Trump attackiert. Peking hat also ein enormes Interesse daran, dass sich die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zur Bundesrepublik weiter auf Spitzenniveau bewegen. Selbst wenn sie aus dem Zähneknirschen nicht mehr herauskämen, bliebe den Kommunisten also nichts anderes übrig, als sich einige deutliche Worte einer weisen Dame aus Deutschland anzuhören.
Merkel nutzte das historische Zeitfenster indes noch nicht konsequent aus. Dabei hätte die Kanzlerin den Potentaten ruhig sagen können, dass Soziale Marktwirtschaft und Demokratie ein prima Paar sind, wie sie im wiedervereinigten Deutschland erlebten durfte. Hier würde sich ein weiterer kritischer Querverweis anbieten, schließlich versuchen die Machthaber, China in einen Überwachungsstaat, in dem Duckmäusertum belohnt wird, zu verwandeln. Und einige Einlassungen zum Skandal, dass zehntausende aufmüpfige Uiguren in Lagern einer Gehirnwäsche unterzogen werden, würde die Predigt der Pfarrerstochter abrunden. Am Ende fehlen noch Worte zum Platz eins der Chinesen auf der Weltrangliste vollzogener Todesstrafen. Natürlich wäre das aus Sicht der Diktatoren ein Affront; aber sie brauchen uns, schließlich war China im vergangenen Jahr zum dritten Mal in Folge der wichtigste Handelspartner Deutschlands. Allein durch weitere wirtschaftliche Annäherung wird sich Peking, das – wie der Experte Kai Strittmatter schreibt – auf dem Weg zur Super-Diktatur ist, nicht wandeln. Jedenfalls so lange, wie den meisten Menschen dort die Freiheit zu konsumieren und zu reisen genügt. Anders als gegenüber dem einstigen Ostblock funktioniert das vom früheren SPD-Vordenker Egon Bahr beschworene Prinzip des „Wandels durch Annäherung“mit China nicht. Es bedarf auch der Strategie eines „Wandels durch mutiges Auftreten“. Noch hat Merkel die Chance dazu, selbst wenn deutsche Konzernherren mit den Zähnen knirschen.
Wandel durch Annäherung funktioniert nicht