Der alte Mann und der Miet-Wahnsinn
Schicksal Ein 89-jähriger Münchner soll nach 44 Jahren aus seiner Mietwohnung ausziehen. Man könnte daraus die Geschichte machen: Herzlose Vermieterin will alten Mann auf die Straße setzen. Aber so einfach ist es nicht
München Als der Vogel über den Balkon saust und zielsicher in den Nistkasten schlüpft, stößt Rudolf Kluge einen innigen Seufzer aus und sagt: „Die Kohlmeise brütet wieder. Wie jedes Jahr.“
Es ist ein sonniger Tag im Münchner Stadtteil Neuperlach. Doch die Gedanken von Rudolf Kluge sind wolkenverhangen. Der lebensfrohe Rentner ist jetzt 89 Jahre alt. Mit einem Ruck erhebt er sich aus dem blumengemusterten Sessel in seinem Eiche-rustikal-Wohnzimmer und blickt nachdenklich nach draußen ins Grüne. Er sagt: „Ich wurde nach dem Krieg aus Schlesien vertrieben. Und jetzt ist es so, als würde ich zum zweiten Mal meine Heimat verlieren.“
Rudolf Kluge wohnt seit 44 Jahren in dieser Wohnung. 80 Quadratmeter in einem der typischen Wohnblocks aus den 70er Jahren. Nicht das, was sich jeder so erträumt, aber Kluge fühlt sich sehr wohl. Drei Zimmer, Küche, Bad und ein schöner Balkon nach Süden. Alles blitzsauber und gepflegt. Er ist damals mit seiner Frau eingezogen. Vor vier Jahren ist sie gestorben. Er hat es verarbeitet.
Rudolf Kluge ist hier glücklich. Er kennt jeden Winkel der Wohnung, jede Stolperfalle, jeden Lichtschalter. Er kann sich blind in der Wohnung bewegen. „Ich will hier nicht weg“, sagt Kluge. Aber genau das soll passieren.
Die Vermieterin will Rudolf Kluge auf die Straße setzen. Im Februar 2018 kam völlig überraschend die Kündigung wegen Eigenbedarfs. „Es war ein Schock für mich“, sagt der freundliche Mann. Nach ein paar schlaflosen Nächten ging er in seiner Not zum Münchner Mieterverein. Die Experten empfahlen, sich zu wehren. Das tut Kluge. Jetzt gibt es eine Räumungsklage und der Fall liegt bei Gericht.
Man könnte daraus jetzt eine ganz einfache Geschichte machen: Herzlose Vermieterin schmeißt alten Mann nach 44 Jahren aus der Mietwohnung. Aber so einfach ist es nicht. Denn mindestens ebenso sehr ist dies eine Geschichte über den völlig verrückt gewordenen Mietmarkt in München. Eine Geschichte über fehlende Wohnungen. Über Mietwohnungen, die immer teurer werden. Und über eine überhitzte Branche, in der solche Konflikte immer häufiger werden.
Erst vergangene Woche hat das Immobilienportal eine neue Analyse vorgelegt, nach der die Mieten in München der Kaufkraft „weit enteilt“sind. Demnach liegen die Kaltmieten in der bayerischen Landeshauptstadt bei 18,10 Euro pro Quadratmeter und damit um 138 Prozent höher als im Bundesdurchschnitt (7,60 Euro). Kein Wunder, dass der Krieg um Wohnraum immer heftiger wird und immer öfter vor Gericht landet. Wie im Fall von Rudolf Kluge.
Dabei scheint es der Vermieterin nicht um Gewinnmaximierung zu gehen. Sprechen will sie nicht, führt aber vor Gericht durchaus nachvollziehbare Gründe für ihre Eigenbedarfskündigung ins Feld: Ihr Sohn hat sich von seiner Lebensgefährtin getrennt. Die beiden haben ein gemeinsames Kind im Alter von zwei Jahren. Der 37-Jährige wohnt derzeit bei seinem Vater in Giesing in einem Zimmer mit zehn Quadratmetern. Der Informatiker möchte seinem kleinen Sohn aber gerne vernünftige Verhältnisse bieten. In der Wohnung seines Vaters geht das nicht.
Alle paar Tage ist das Kind bei ihm, auch über Nacht. „Ich muss dem Kleinen ein stabiles Umfeld bieten, er hat schon so viel wegstecken müssen“, sagte der 37-Jährige im Prozess. Und eine andere bezahlbare Wohnung hat er in München trotz eines Nettogehalts von 2700 Euro nicht gefunden, behauptet er zumindest. Was läge also näher, als in die Wohnung seiner Mutter einzuziehen? „Ich bin selbst kein Fan von der Kündigung des Mieters. Aber es muss sein“, sagte der ITFachmann als Zeuge vor Gericht.
Da streiten jetzt also ein junger und ein alter Mann um eine Wohnung. Der eine will ein vernünftiges Zuhause für seinen kleinen Sohn. Der andere ist dort seit 44 Jahren verwurzelt und weiß nicht, wie er angesichts horrender Mieten in seinem Alter noch etwas finden soll. So ist der Wohnungsmarkt in München in diesen Zeiten. Irrsinn.
Rudolf Kluge sieht müde aus. Die Augen sind gerötet. Seit über einem Jahr steht sein Leben kopf. Als er in den 70er Jahren hier eingezogen ist, endete gerade der Vietnamkrieg und der Bundeskanzler hieß Helmut Schmidt. Wohnungsnot war ein Fremdwort.
Und jetzt findet sich der reizende alte Herr, der in all den Jahrzehnten nie einen Rechtsstreit hatte, plötzlich auf einem Schlachtfeld der Ideologie wieder. Wohnen wird immer mehr zum Klassenkampf. In Berlin läuft ein Volksbegehren zur Enteignung großer Immobilienkonzerne. In Bayern will der Mieterverein München bald ein Volksbegehren für Mieten-Stopp starten. Eine Musterklage des Mietervereins gegen eine drastische Mieterhöhung läuft ebenfalls. Sogar der frühere Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) hat sich in den Fall Kluge eingemischt: „Das ist unsozial. Ich finde, ein Gesetz muss her: Menschen über 70 darf die Wohnung nicht mehr gekündigt werden“, schrieb Gabriel auf Twitter. Dass dann wohl kaum noch ein Wohnungsbesitzer an Menschen über 60 vermieten würde, hat der Politiker vielleicht nicht bedacht.
Rudolf Kluge ist tief verwurzelt im Stadtteil. Er kennt viele Leute, geht regelmäßig zum Seniorentreff und führt zweimal pro Woche fürs Tierheim Hunde aus. An Sonn- und Feiertagen setzt er sich in seinen Opel Corsa und fährt in eine Wirtschaft zum Essen. Die Miete von 1000 Euro kann er sich von seiner Rente gerade so leisten. Und das soll jetzt alles vorbei sein? „Ich will nicht direkt ins Altersheim“, sagt Kluge. Einen Platz in einer betreuten Wohneinrichtung in Perlach hat er vorsichtshalber dennoch schon mal reserviert.
Und obwohl er seine Heimat nicht verlassen will, hat er sich auf Anraten des Mietervereins auf die Suche nach einem neuen Zuhause begeben, hat telefoniert, angefragt, etliche Wohnungen besichtigt. Sogar der Pfarrer hat geholfen. Er druckte Kluge Online-Inserate aus. Aber alles Fehlanzeige. Die meisten haben nicht einmal geantwortet. „Ich kann die Leute ja verstehen. Die sagen, der lebt nur noch ein, zwei Jahre“, sagt der 89-Jährige. „Und irgendwie“, sagt Kluge, „kann ich auch meine Vermieterin verstehen.“
Ein Dilemma. Und da keiner nachgeben will, muss jetzt ein Gericht entscheiden. Die Räumungsklage liegt beim Amtsgericht München. In einer ersten Verhandlung ging es um die Glaubwürdigkeit des Eigenbedarfs. Und da gibt es für die Richterin Karin Jung wenig Zweifel: Sie hält den Eigenbedarf nach der Anhörung mehrerer Zeugen für „glaubwürdig und nachvollziehbar“. Das ist auch noch eine relativ einfache juristische Frage.
Viel schwieriger wird es, wenn es in moralische Kategorien geht. Kann Rudolf Kluge in seinem Alter und mit seiner Verwurzelung ein Umzug überhaupt noch zugemutet werden? Das ist die Kernfrage vor Gericht – unabhängig davon, ob der Rentner angesichts hunderter Mitbewerber überhaupt eine andere Wohnung findet. Am Ende wird es eine Interessenabwägung sein. Und am Ende wird einer von beiden das Nachsehen haben.
Emil Kellner, der Anwalt von Rudolf Kluge, ist zuversichtlich, dass es nicht sein Mandant sein wird. „Herr Kluge ist eindeutig ein Härtefall“, sagt der Experte für Mietrecht. Das Angebot der Vermieterin einer einjährigen Auszugsfrist plus Umzugshilfe hat Kellner abgelehnt. Er sieht das aber viel grundsätzlicher. Die Rechtsprechung habe in den vergangenen Jahren die Anforderungen an eine Eigenbedarfskündigung stark heruntergeschraubt und auf der anderen Seite die Anforderungen an Härtefälle deutlich hochgesetzt. Das hat in seinen Augen die Rechte der Mieter erheblich geschwächt. Die Ursache für die Schwierigkeiten sieht Anwalt Kellner auch im überhitzten Wohnungsmarkt. Das führe dazu, dass viele beim Eigenbedarf tricksen. Da wird dann für zwei Jahre ein „Strohmann“in die Wohnung gesetzt. Und die Kommunen haben ihren Immobilienbesitz weitgehend verkauft, ihnen fehle jetzt die Möglichkeit zu steuern. „Der Eigenbedarf wird deshalb von Mietern als so bedrohlich empfunden, weil sie keine andere Wohnung finden“, sagt Emil Kellner.
Offenbar hat in München die Zahl der Kündigungen wegen Eigenbedarfs stark zugenommen. Von 2017 auf 2018 hat sich die Zahl der Fälle beim Mieterverein von 440 auf 880 genau verdoppelt, berichtet dessen Geschäftsführer Volker Rastätter. Früher sei das sehr selten gewesen. Auch er hat in den vergangenen Jahren eine Schwächung der Mieterrechte beobachtet.
Rastätter berichtet vom Fall einer „Theaterwohnung“vor einigen Jahren. Eheleute aus dem Landkreis Fürstenfeldbruck haben dem Mieter ihrer Wohnung in der Schwanthalerstraße in München gekündigt. Begründung: Sie brauchen die Wohnung selbst, weil sie wegen eines Theater-Abos mehrmals im Jahr in München übernachten wollen. Sie hatten damals tatsächlich Erfolg. Auch Eigenbedarf für eine Ferienwohnung wurde teils akzeptiert.
Angesichts der aktuellen Lage auf dem Wohnungsmarkt scheint das fast unglaublich. Doch Jurist Rastätter sieht eine Veränderung: „Die Gerichte bis hinauf zum Bundesgerichtshof haben sich offenbar besonnen.“Zum Fall von Rudolf Kluge hat er eine klare Meinung: „Was
Die Gegenseite sagt: Es muss sein Der Anwalt sagt: Natürlich ist das ein Härtefall
denn sonst sollte ein Härtefall sein?“Für Kluge sei es wegen seines Alters fast unmöglich, eine neue Wohnung zu finden.
Die Vermieterseite hat eine ganz andere Meinung zu den Eigenbedarfskündigungen. „Das ist mal wieder eine Hetzkampagne gegen Vermieter“, sagt Rudolf Stürzer vom Eigentümerverband Haus + Grund in München. Der Bundesgerichtshof habe zu Recht die Rechtsprechung zugunsten der Vermieter gelockert. Die Mieterverbände wollten durch „Stimmungsmache“jetzt wieder eine Verschärfung per Gesetz erreichen. Tatsächlich habe die Zahl der Eigenbedarfskündigungen zugenommen. Aber erstens nicht in dem Maß, wie vom Mieterverein behauptet, und zweitens habe das einen einfachen Grund, sagt Stürzer: Die Angehörigen der Eigentümer tun sich wegen des angespannten Marktes auch immer schwerer, eine Wohnung zu finden. Den Fall Kluge wertet Rudolf Stürzer als Seltenheit. „Das ist ein Ausnahmefall, er taugt nicht als Beispiel für böse Vermieter.“
Man wird sehen, wie das Amtsgericht im Fall Kluge entscheidet. Es wird sicher noch dauern. Die Richterin hat einen Gutachter beauftragt. Er soll Rudolf Kluge untersuchen und abschätzen, wie sehr ihn die Folgen eines Rauswurfs treffen würden. Eine Frist hat das Gericht nicht gesetzt. Bis zu einer Entscheidung dürfte es also Herbst werden.
Das Gute daran ist für Rudolf Kluge, dass er so lange auf jeden Fall in seiner geliebten Wohnung in Neuperlach bleiben kann. Die Kehrseite ist, dass die Unsicherheit noch Monate andauern wird. Kluge hat sein halbes Leben in der Wohnung verbracht.
In seinem rot-weiß gestreiften Poloshirt tritt er auf den Balkon. Die Kohlmeise saust wieder ins Vogelhäuschen. So viele Jahre hat er ihr eine Wohnung gegeben. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. „Ich hoffe, dass ich auch hier wohnen bleiben darf“, sagt Rudolf Kluge. „So viele Jahre sind es ja nicht mehr.“