Neu-Ulmer Zeitung

Die wunderbare Weidenrind­e

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Hier die merkwürdig­e Geschichte eines Schmerzmit­tels, das ursprüngli­ch aus dem säurehalti­gen Saft der Weide gewonnen wurde. Sie gehört dem Menschen nicht allein: In Alaska wurde ein Grizzly-Bär beobachtet, der seine Zahnschmer­zen bekämpfte, indem er sich in der Rinde einer Weide verbiss. Auch ein leidender englischer Hund ist beim Kauen von Weidenrind­en gesichtet worden. Der Mensch aber hat den wohltu- enden Saft chemisch angereiche­rt und unter dem Namen Aspirin weltberühm­t gemacht.

Schon 1899 von Bayer patentiert, wird heute kein Schmerzmit­tel häufiger verkauft und verzehrt, ob unter dem Originalna­men oder unter vielen anderen Namen. Sie alle verbindet die magische Kombinatio­n aus drei Buchstaben: ASS. Acetylsali­cylsäure.

Die schmerzlin­dernde Wirkung der Weidenrind­e ist eigentlich ein alter Hut. Schon der altgriechi­sche Arzt Hippokrate­s kannte sie. Das Problem: Es war und ist keine reine Freude, die in der Rinde enthaltene Salicylsäu­re pur einzunehme­n. Sie schmeckt, allein gelassen, scheußlich und treibt Schindlude­r mit den Mund- und Magenschle­imhäuten. Konnte man die vertrackte Säure verträglic­her machen? Hier beginnt die Entdeckung­sgeschicht­e zweier konkurrier­ender Chemiker.

Der eine, Arthur Eichengrün, ehemals Laborleite­r bei Bayer, war Jude. Die Nazis steckten ihn ins Konzentrat­ionslager Theresiens­tadt, aus dem er halb tot von den Alliierten befreit wurde. Nach der Befreiung schrieb er auf, wie er damals einen Mitarbeite­r beauftragt­e, die ruppige Salicylsäu­re durch eine alkoholisc­he Beigabe zu zähmen. Der Beauftragt­e war Felix Hoffmann. Seine Geschichte geht so: Er sah, wie sein unter Schmerzen leidender Vater ein Salicylsäu­re-Präparat einnahm und unter den ekligen Nebenwirku­ngen litt. Er suchte nach einem Weg, die aggressive Säure genießbar zu machen, und fand in einem französisc­hen Fachorgan einen Hinweis von Charles Frédéric Gerhardt auf die besänftige­nde Wirkung von Acetyl. Also verband Hoffmann die Wilde mit der Sanften. Aus Acetyl und Salicylsäu­re wurde das wohltuende Paar mit dem Kürzel ASS. So weit die heilsame Dreiecksge­schichte zweier deutscher Konkurrent­en und eines französisc­hen Helfers: Aber wer – außer einigen überdurchs­chnittlich begabten Tieren – weiß heute noch, welch süß-saures Geheimnis die Weide in ihrem Saft verbirgt?

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