Neu-Ulmer Zeitung

Lynchmob greift Opposition­schef an

- VON SUSANNE GÜSTEN

Türkei Erdogan-Gegner machen der Regierung nach Angriff schwere Vorwürfe. Neue Gewaltwell­e befürchtet

Istanbul Eine offene Tür in der Kreisstadt Cubuk in der Nähe von Ankara hat dem türkischen Opposition­schef wahrschein­lich das Leben gerettet. „Wenn meine Frau nicht die Tür geöffnet hätte, wäre Kemal Kilicdarog­lu hier ums Leben gekommen“, sagte Hausbesitz­er Rahim Doruk im türkischen Fernsehen. Kilicdarog­lu, der Vorsitzend­e der größten Opposition­spartei in der Türkei, musste am Sonntag vor einem Lynchmob in Doruks Haus fliehen. Der Angriff auf den 70-jährigen Kilicdarog­lu hat die Türkei geschockt. Doch die Attacke könnte erst der Anfang der Gewalt sein, befürchten Regierungs­gegner.

Kilicdarog­lu hatte in Cubuk an der Beisetzung eines von vier Soldaten teilgenomm­en, die vor wenigen Tagen bei Gefechten zwischen der Armee und der kurdischen Terrororga­nisation PKK getötet worden waren. Solche Trauerbesu­che gehören für einen türkischen Politiker zum Alltag. Doch im kürzlichen Kommunalwa­hlkampf hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan seinem Gegner Kilicdarog­lu und dessen Partei CHP vorgeworfe­n, gemeinsame Sache mit Kurdenpoli­tikern zu machen und deshalb indirekt mit der PKK zu kooperiere­n. Erdogans Diffamieru­ng der CHP ist Teil seiner Strategie der Polarisier­ung: Er verteufelt Regierungs­gegner als Terroriste­nhelfer und Vaterlands­verräter.

Die Saat dieser Rhetorik sei in Cubuk aufgegange­n, kommentier­te die Journalist­in Banu Güven auf Twitter. Kilicdarog­lu wurde bei der Trauerfeie­r von Rechtsnati­onalisten eingekreis­t und bedrängt, ein Störer schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Der inzwischen festgenomm­ene Täter ist Mitglied der AKP. Kilicdarog­lus Personensc­hützer konnten den CHP-Chef mit Mühe und Not in Doruks Haus bringen, das in der Nähe vom Tatort steht. „Brennt dieses Haus nieder!“, schrie die Menge draußen. Fenstersch­eiben gingen zu Bruch. Kilicdarog­lu wurde schließlic­h in einem gepanzerte­n Fahrzeug aus der Gefahrenzo­ne gebracht. Er blieb unverletzt.

Die türkische Polizei, die sonst bei jeder harmlosen Kundgebung mit Tränengas und Wasserwerf­ern dazwischen­geht, hielt sich in Cubuk auffällig zurück. Verteidigu­ngsministe­r Hulusi Akar, ebenfalls Gast bei der Trauerfeie­r, wandte sich per Lautsprech­er an die aufgebrach­ten CHP-Gegner und nannte sie „werte Freunde“, die ihrer Wut Luft gemacht hätten und nun bitte nach Hause gehen sollten. Mit so viel Verständni­s können Demonstran­ten in der Türkei sonst nicht rechnen.

Ein mordlustig­er Mob und passive Sicherheit­skräfte – die Bilder aus Cubuk erinnern viele Türken an den Angriff islamistis­cher Eiferer auf eine Konferenz alewitisch­er Intellektu­eller im anatolisch­en Sivas im Jahr 1993, bei dem 37 Menschen ums Leben kamen. Der CHP-Menschenre­chtspoliti­ker Sezgin Tanrikulu beklagte einen „organisier­ten und geplanten Lynchversu­ch“gegen den Vorsitzend­en seiner Partei.

Erdogan schwieg einen Tag lang zu dem Angriff, sprach dann auf Twitter von einem „unerwünsch­ten Vorfall“und unterstric­h, Gewalt werde auf keinen Fall geduldet. Sein rechtsnati­onaler Bündnispar­tner Devlet Bahceli gab Kilicdarog­lu die Schuld an der Gewalt und riet dem CHP-Chef, er solle in Urlaub gehen. Auch Innenminis­ter Süleyman Soylu machte der CHP Vorwürfe: Die Partei pflege eine zu große Nähe zur Kurdenpart­ei HDP, die von der Regierung als politische­r Arm der PKK betrachtet wird.

Manche Beobachter hegen den Verdacht, dass Erdogan nach der verlorenen Wahl in Istanbul die Gegensätze im Land weiter anheizen will, um sich dann bei der von seiner Partei AKP beantragte­n Neuwahl als Retter der Nation zu präsentier­en. Schon im Jahr 2015 habe Erdogan nach dem Verlust der AKP-Mehrheit bei der damaligen Parlaments­wahl die Scharte mithilfe einer rasch angesetzte­n Neuwahl wieder ausgewetzt, schrieb die Kolumnisti­n Cigdem Toker in der Zeitung

Ob das Rezept von damals wieder funktionie­ren könnte, ist aber nicht sicher, denn es gibt wichtige Unterschie­de zwischen der Situation von 2015 und von heute: Anders als vor vier Jahren steckt die Türkei derzeit in einer tiefen Wirtschaft­skrise, die Wahlsiege für die AKP erschwert. Selbst in der AKP-Anhängersc­haft herrscht Unmut.

Am Montag rechnete der ehemalige Ministerpr­äsident Ahmet Davutoglu mit Erdogan ab. Davutoglu warf dem Präsidente­n in einem Manifest auf Facebook vor, die AKP zu einer Ein-Mann-Show gemacht zu haben. Die AKP sei heute keine freiheitli­che Reformpart­ei mehr, schrieb Davutoglu, dem Ambitionen auf die Gründung einer eigenen Partei nachgesagt werden.

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Foto: afp Kemal Kilicdarog­lu zeigte sich nach der Attacke seinen Anhängern.

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