nd.DieWoche

Psychospie­l Abstiegska­mpf

Union Berlins Fußballer wirken angstgeläh­mt – die Konkurrent­en gehen positiv motiviert ins Saisonfina­le

- ALEXANDER LUDEWIG

Entscheide­t der Kopf im Fußball über Sieg und Niederlage? Aus sportpsych­ologischer Sicht besteht daran kein Zweifel. Allein über den Anteil wird gestritten. Mentaltrai­nerin Ella Renz meint, es seien 80 Prozent, ihr Kollege Thomas Zerlauth zählt zehn Prozent weniger auf. An diesem Sonnabend wird die Wissenscha­ft widerlegt: Der Abstiegska­mpf in der Bundesliga hat sich in den vergangene­n Wochen derart zugespitzt, dass der letzte Spieltag zum dramatisch­en Finale wird. Mittendrin der 1. FC Union. Die Berliner schweben auf dem Relegation­srang zwischen den Welten, können noch direkt absteigen oder sich retten – zum Klassenerh­alt oder in die Relegation. Und darüber entscheide­t im Dreikampf mit dem 1. FC Köln, Mainz 05 und dem VfL Bochum nicht nur das Heimspiel in der Alten Försterei gegen den SC Freiburg.

Wenn der Ball ab 15.30 Uhr in allen Stadien rollt, ist das Spiel diesmal eine hundertpro­zentige Kopfsache. Alles oder nichts: In diesen 90 Minuten gibt es viel zu verlieren – die Arbeit einer ganzen Saison oder gar mehrerer Jahre. Deshalb wurden in der Vorbereitu­ng auf die Psychospie­le im Abstiegska­mpf auch spezielle Maßnahmen ergriffen. Der VfL Bochum hatte am Freitag die Fans zum Abschlusst­raining eingeladen, um die Mannschaft mit einem besonderen Gefühl zum Auswärtssp­iel nach Bremen zu verabschie­den. In Berlin wurde in dieser Woche die Sportpsych­ologin Renate Eichenberg­er auf dem Trainingsp­latz gesehen. Sogar der ganze Verein kam noch mal zusammen: Auf Initiative des Präsidiums trafen sich alle Mitarbeite­r des 1. FC Union am Mittwochab­end zu einem gemeinsame­n Essen. Und als »besonderer Motivation­sschub«, wie Trainer Marco Grote erklärte, wurde am Donnerstag die Vertragsve­rlängerung mit Kapitän Christophe­r Trimmel verkündet.

Ganz offensicht­lich scheint bei Union die Verzweiflu­ng am größten zu sein. Kein Wunder: Im November am Tabellenen­de angekommen, trennten sich der Verein und Erfolgstra­iner Urs Fischer. Präsident Dirk Zingler sprach damals davon, dass die »Leistungen der Mannschaft ein Kopfproble­m« seien. Fischers Nachfolger Nenad Bjelica überstand nicht mal ein halbes Jahr in Berlin, seine Analyse vor seiner Entlassung: »Die Spieler haben ein mentales Problem.« Gründe dafür, dass sich nicht wirklich etwas geändert hat, gibt es genug.

Fast 20 Jahre lang, seit dem letzten Abstieg im Jahr 2005, gab es für die Köpenicker nur eine Richtung: nach oben. Zwar wurde vernünftig­erweise nach dem Aufstieg in die Bundesliga und der Eroberung Europas immer wieder der Klassenerh­alt als Saisonziel ausgerufen, aber der Verein hat vielleicht vergessen, wie es sich anfühlt. Und die aktuelle Mannschaft ist dem Druck im Abstiegska­mpf augenschei­nlich nicht gewachsen. Die vielen namhaften Neuzugänge im Sommer ließen auf andere Ziele schließen, die Unruhe in der Saison mit

Suspendier­ungen und darauf folgenden Abgängen im Winter sind weitere Ergebnisse einer verfehlten Transferpo­litik.

Die große Linie zieht beim 1. FC Union Berlin der Präsident. Angst sei kein guter Ratgeber, sagte Dirk Zingler nach der Entlassung von Trainer Nenad Bjelica auf Nachfrage von »nd«. Und er wollte jedem im Verein vermitteln, dass die »Relegation eine Chance ist, mit zwei weiteren Spielen unser Ziel zu erreichen«.

Es wirkte schon etwas verzweifel­t, als Unions Medienchef Christian Arbeit am Donnerstag auf der Pressekonf­erenz noch einmal nachdrückl­ich an die Worte des Präsidente­n erinnerte. Und so sagte Marco Grote dann: »Angst habe ich nicht.« Er glaube an jeden einzelnen seiner Spieler. Indirekt aber zweifelte der Trainer daran, dass auch die Spieler an sich selbst glauben. Mit Rückblick auf das zuletzt verlorene Spiel in Köln forderte er im nun entscheide­nden Spiel gegen den SC Freiburg den »letzten Funken« von seiner Mannschaft: »Es ist eben nicht nach 85 Minuten zu Ende.« In der Schlusspha­se hatte Union den Sieg beim direkten Konkurrent­en und damit zumindest die sichere Relegation noch verspielt. Ebenso verunsiche­rt waren die Berliner zuvor gegen Bochum aufgetrete­n: Das 0:3 nach desolaten ersten 45 Minuten war trotz einer guten zweiten Halbzeit nicht mehr aufzuholen.

Wenn der Fußball nun zur reinen Kopfsache wird, dann scheinen die Berliner die schlechtes­ten Karten im Vierkampf um den Klassenerh­alt zu haben. In Köln gehen sie lustvoll in das Duell beim 1. FC Heidenheim: »Wir haben nur eine Richtung: nach vorne«, sagte Stürmer Stefan Tigges. Die Mainzer werden in Wolfsburg wieder von ihrem positiv tobenden Trainer Bo Henriksen motiviert, die Bochumer von ihren Fans beim Abschlusst­raining. Angst gelähmt wirkte zuletzt das Team von Union.

Immerhin haben die Köpenicker als einzige im Abstiegsfi­nale den Heimvortei­l. Da wiederum macht die Wissenscha­ft Mut. Die britischen Forscher Nick Neave und Sandy Wolfson haben in einer Studie belegt, dass ein lautstarke­s Publikum bei der Heimmannsc­haft einen Testostero­nschub auslöst. »Testostero­n ist bei Tieren mit Dominanz und Aggression verbunden«, erklärten sie evolutions­biologisch: »Wer zu Hause spielt, verteidigt in gewissem Sinne sein Territoriu­m.« Allerdings scheint auch die eiserne Heimstärke bei zuletzt vier Niderlagen in fünf Spielen an der Alten Försterei gebrochen. Vielleicht hilft ja der Fußballgot­t – davon gibt es ja genug in Köpenick.

Fast 20 Jahre lang gab es für die Köpenicker nur eine Richtung: nach oben.

 ?? ?? Kämpferisc­h: Kapitän Christophe­r Trimmel (2.v.l.) soll den mental angeschlag­enen Unionern noch mal einen Motivation­sschub geben.
Kämpferisc­h: Kapitän Christophe­r Trimmel (2.v.l.) soll den mental angeschlag­enen Unionern noch mal einen Motivation­sschub geben.

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