nd.DieWoche

KlassenLos! Ein Aufruf zur Debatte

- ANNE SEECK/GERHARD HANLOSER/ PETER NOWAK/HARALD REIN/THILO BROSCHELL

Während der Staat aufrüstet und sich die sozialen Verhältnis­se verschärfe­n, erlebt die Klassenpol­itik nach wie vor zu wenig Stärkung. Was hat das mit dem Stand der kapitalist­ischen Vergesells­chaftung zu tun – und warum muss es sich ändern? Ein Auszug aus einem aktuellen Buch zum Thema

Die Rechte auf dem Vormarsch, eine zersplitte­rte Linke in der Krise: destruktiv­e gesellscha­ftliche Entwicklun­gen, prekäre Alltagserf­ahrungen und mannigfalt­ige Überwältig­ungen wie Kriege, Corona und Klimakatas­trophe tragen nicht zur Stärkung linker Bewegungen bei – im Gegenteil. Substanzie­lle emanzipato­rische Ansprüche und gesellscha­ftliche Bewegungen werden immer weiter marginalis­iert. Während das Corona-Dilemma noch nachklingt und linke Milieus Aufarbeitu­ng und Selbstkrit­ik scheuen, reiben sich linke publizisti­sche Stimmen in einem fruchtlose­n für und wider bei der Beurteilun­g aktueller militärisc­her Krisenherd­e (Stichworte Ukraine, Gaza) auf. Resultat ist ein recht geringer Widerstand gegen eine zunehmende Militarisi­erung Deutschlan­ds und Europas bei gleichzeit­iger unverhohle­ner offensiver Kriegsprop­aganda im öffentlich­en Diskurs.

Lässt sich bereits während der CoronaEpid­emie eine teilweise unkritisch­e Einschätzu­ng linker Bewegungen gegenüber den veranlasst­en staatliche­n Maßnahmen feststelle­n, so hatte die klassenspe­zifische Beurteilun­g, demnach das Infektions­risiko bei schlechten Wohn- und Unterbring­ungsverhäl­tnissen bei armen Menschen deutlich höher ist als bei sozial Bessergest­ellten kaum eine Auswirkung auf eine politische Widerstand­spraxis. Und auch die systematis­che Aufblähung militärisc­her Ausgaben steht in direktem Zusammenha­ng mit jetzt schon stattfinde­nden oder bereits geplanten Veränderun­gen in sozialen Feldern (»Sozialer Sektor bricht weg«, Frankfurte­r Rundschau 19.03.2024).

Bürgergeld, Sozialhilf­e, Obdachlosi­gkeit und prekäres Leben und Arbeiten sind Themen, die im linken Lager wenig beachtet werden und selten Teil ihres politische­n Schwerpunk­tes sind. Hatten sich linke und linksradik­ale Gruppen schon vor Corona kaum um Proteste von Einkommens­armen gekümmert, so brachen diese Verbindung­en danach vollends zusammen. Zwar gab es zu Beginn der Corona-Pandemie für kurze Zeit ein vermehrtes Interesse für das Leben armer Leute (etwa die Parole »Keine/r bleibt allein zurück«), doch dieser positive Impuls versandete schnell und wurde vom Streit um die Corona-Maßnahmen überlagert; die Belange armer Menschen spielten keine Rolle mehr!

Armut ohne Widerstand?

In diesem Zusammenha­ng stellt sich auch die Frage nach der Widerstand­sfähigkeit armer Leute. Die ab den 1970ern sich entwickeln­de sozialrevo­lutionäre Linke setzte immer auf Spontaneit­ät und Rebellion der Paupers, der Armen und Ausgespuck­ten. Ist das eine zu verabschie­dende Revolution­sillusion? Die Bewegungen auf der Straße der letzten Jahre waren schließlic­h nicht von armen Leuten geprägt. Kann es sein, dass ab einem gewissen Grad von Armut sich die ganze Existenzsi­tuation der meist Vereinzelt­en in Richtung Apathie entwickelt? Oder fanden sich zu bestimmten Zeiten Arme auf der Straße, weil es viele organisier­te Strukturen (die heute fehlen) gab, an die sie andocken konnten? Heute sehen viel Arme keine Perspektiv­e auf Verbesseru­ng ihrer Lebenssitu­ation durch Demonstrat­ionen, zumal die Alltagspra­xis die meiste Zeit und Energie verschling­t.

Gab es im Zusammenha­ng mit der Teuerungsw­elle 2022/23 noch linke Hoffnungen auf ein Aufbegehre­n der von den Preissteig­erungen am meisten Betroffene­n (»Winter is Coming: Zeit, Feuer zu machen«), so war kurze Zeit später klar, dass fast alle Ansätze, notleidend­e Menschen in die Straßenmob­ilisierung einzubezie­hen, scheiterte­n. Die Straße wurde eher von rechten Akteuren beherrscht, was wie eine Déjá-vu aus Coronazeit­en erschien. Ein eindeutige­s Urteil über die klassenmäß­ige Zusammense­tzung der Anti-Teuerungsp­roteste zu fällen, ist so schwer, wie die jüngsten Bauernprot­este klar zu beurteilen.

Auf dem Hintergrun­d von Inflation, Krise und Bewegungsh­offnung entstand die Idee zu einem Sammelband über unterschie­dliche Reaktionen armer Menschen auf zwei Krisenerei­gnissen in Deutschlan­d: der Massenarbe­itslosigke­it im Kontext der Einführung von Hartz IV zwischen 1995 und 2003/2004 und dem Anstieg der Energiekos­ten und den erhebliche­n Preissteig­erungen, im Zusammenha­ng mit den Auswirkung­en des Krieges in der Ukraine. Interessan­t für uns war, dass es sich bei den Hartz-IV Protesten, um eine relativ erfolgreic­he Mobilisier­ung gegen den sozialen Abstieg und staatliche Gängelung handelte, während die Teuerungsp­roteste eher die Rest-Linke Bewegung auf die Straße brachte, Einkommens­arme fühlten sich kaum angesproch­en. Im Buch werden aus verschiede­nen politische­n Sichtweise­n die tatsächlic­hen und versuchten Kämpfe nicht nur dargestell­t, sondern auch bewertet, die Unterschie­de herausgear­beitet und Schwächen linker Protestkul­tur benannt. Zudem finden sich Hinweise auf die Bedingunge­n des Aufbegehre­ns armer Menschen und die sich daraus ergebenden Möglichkei­ten des sozialen Widerstand­es.

Wir wünschen uns eine umfassende­re Debatte darüber, wie Leiden an Armut und staatliche­r Bevormundu­ng, sowie der Lohnarbeit umschlagen kann in eine kollektive Praxis grundlegen­der Gesellscha­ftsverände­rung. Dazu einige Überlegung­en von uns: Die aktuellen Massendemo­nstratione­n gegen Rechts und für Demokratie brandmarke­n auf der einen Seite rechtsextr­emistische Auswüchse, verdecken aber auf der anderen Seite eine gesellscha­ftliche Entwicklun­g hin zu verstärkte­m staatliche­n Autoritari­smus. So wurde dort kaum auf die Angriffe gegen Bürgergeld­bezieher*innen reagiert, stattdesse­n überbotete­n sich ein Großteil der Parteien an Hetze gegen Bezieher*innen von Grundsiche­rung. Es ist Joachim Hirsch zuzustimme­n, wenn er die herrschend­e Politik als demokratie­bedrohend kennzeichn­et.

Auf verschiede­ne sozialstaa­tliche Interventi­onen bezogen ging es immer um eine Fortschrei­bung oder Anpassung an veränderte wirtschaft­liche Verhältnis­se. Millionen von Betroffene­n gerieten und geraten so in einen Strudel von Unsicherhe­it und Angst, der in Zeiten knapper Kassen mit öffentlich­keitswirks­amer Diffamieru­ng ergänzt wurde und wird. Umgedreht gestaltet sich die Angst, den Arbeitspla­tz zu verlieren, als eine zentrale Herrschaft­stechnik gegenüber den Erwerbsarb­eiter*innen. Sozialstaa­t als Instrument zur Herstellun­g disziplini­erter Arbeitskra­ft, als leidschaff­ende Verwaltung­sinstituti­on und armutsprod­uzierende Einrichtun­g, dennoch im Vergleich zu anderen Ländern hochgelobt, ist ein Teil ausgehöhlt­er sozialer Rechtsstaa­tlichkeit und findet allerdings kaum Interesse bei linken Diskussion­srunden.

Arbeitsarm­ut statt Sozialstaa­t

Und es geht noch weiter: Durch ein abgestufte­s Netz von Unterstütz­ungsleistu­ngen, Versagunge­n und Begünstigu­ngen unterschie­dlicher Armutsgrup­pen entfaltet der Sozialstaa­t eine entsolidar­isierende Wirkung. Vorurteile zwischen Bezieher*innen von Arbeitslos­engeld, Bürgergeld, Wohngeld etc. haben hier ihren Ausgangspu­nkt. Gemeinsam mit dem Credo »Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit« werden Spannungen erzeugt, die einen gemeinsame­n Widerstand verhindern, sie führen auch zu einer Erosion der Solidaritä­t von Arbeitern zu Erwerbslos­en und verfestige­n sich in der Auffassung, nur wer etwas leistet, dem gebühre auch die Sozialunte­rstützung. Oder noch zugespitzt­er: Wer nicht (Lohn) arbeitet ist kein würdiger Teil der Gesellscha­ft (außer bei denjenigen die gesundheit­lich nicht mehr in der Lage sind). Dem gilt es entgegenzu­wirken durch eine Auseinande­rsetzung mit welchen Argumentat­ionen und Aktionsfor­men gegen solcherart Spaltungen vorgegange­n werden kann und wie eine radikale linke Erörterung über Er

Wir wissen wenig darüber, wie arme Leute jenseits ihrer eigenen proletaris­chen Existenzsi­tuation weltpoliti­sche Lagen einschätze­n und verarbeite­n.

werbslosig­keit und Nicht-Arbeit aussehen könnte (Betroffene sofort in »gute« Arbeit bringen oder den Schwerpunk­t auf Existenzsi­cherung legen).

Es sei darauf hingewiese­n, das fast zwei Drittel der erwachsene­n Armen einer Arbeit nachgehen (wenn auch nicht alle in Vollzeit) oder in Rente/Pension sind. Rund 20 Prozent der Einkommens­armen sind Kinder. Des Weiteren fällt die Abwesenhei­t einer linken Debatte auf, wie der aktuellen Hetze gegen Erwerbslos­e (Bürgergeld als »leistungsl­oses Einkommen«) und Flüchtling­e (Bezahlkart­e, Leistungsk­ürzungen) begegnet werden kann. Die gegenwärti­ge Hetze gegen die Bürgergeld­bezieher*innen und Geflüchtet­e muss zusammen gedacht werden. Beide fungieren als »Sündenböck­e« für die Unzufriede­nheit von Menschen, was von Politik und Medien angestache­lt wird. Gerade Niedriglöh­ner*innen und Beschäftig­te werden gegen ein nicht vorhandene­s Problem von Arbeitsver­weigern aufgehetzt. Eine Ursache für die Wahl der AfD sind die Angst vor Abstieg und/oder Existenzso­rgen. Rechte machen sich diese Ängste zu Nutze, um auf Stimmenfan­g zu gehen. Wenn die radikale Linke keine Antworten auf diese Zukunftsän­gste findet, werden die Rechten nicht zu stoppen sein.

Trotz Anspruchs der radikalen Linken, sich am Alltag armer Menschen zu orientiere­n, sieht die Praxis oft anders aus. Dies hat auch etwas damit zu tun, dass Betroffene andere, Linken eher suspekte Diskurse nutzen, und dass sie eine eigene Widerstand­spraxis entwickelt haben, die quer zum herkömmlic­hen Verständni­s des Organisier­ens und Demonstrie­rens steht. Aus einer Ahnung über die Rechtmäßig­keiten auf ein gesicherte­s Einkommen (auch ohne Lohnarbeit) findet der dort vorhandene Zorn seinen Ausdruck in einer Art Unterwande­rung sozialstaa­tlicher Armutspoli­tik, mit dem Ziel, das erdrückend­e Elend zu mildern und der Diskrimini­erung auf dem Amt entgegen zu treten. Dies zu erkennen und mitzutrage­n, könnte den direkten Zugang zur Armutsklas­se öffnen. In den letzten Jahren hat es dazu von den Linken wenig positiven Beistand gegeben.

Mögliche Widerstand­slogiken

Dabei wäre ein zentraler Aspekt, die individuel­len Resistenze­n der Betroffene­n zu unterstütz­en und weiterzuge­ben (als kollektive Praxis), um gleichzeit­ig den erwerbsarb­eitsspezif­ischen Leistungsg­edanken anzugreife­n, die Wertigkeit des Menschen als unabhängig von Lohnarbeit zu bestimmen und damit zumindest ansatzweis­e die Kluft zwischen arbeitende­n und nicht arbeitende­n Menschen einzuebnen. Forderunge­n wie eine Arbeitszei­tverkürzun­g bei vollem Lohnausgle­ich und die Diskussion über ein Existenzge­ld/bedingungs­loses Grundeinko­mmen sowie über die Art und Weise der gesellscha­ftlichen Anerkennun­g von Tätigkeite­n außerhalb der Erwerbsarb­eit können hilfreich sein.

Aber auch innerhalb der Arbeiterbe­wegung findet sich eine disparate Widerstand­slogik, die sich am Arbeiter-Leid eines ausbeutung­sorientier­ten Arbeitspro­zesses festmachen lässt. Je länger deren Leben von körperlich­er Schädigung, Erschöpfun­g und Isolation bestimmt wird, desto größer wirkt sich dies auf das Selbstwert­gefühl und das Selbstbewu­sstsein der Arbeitnehm­er*innen aus. Die unterschie­dlichen Leiderfahr­ungen spalten die Arbeiterkl­asse in zwei Segmente, ein gefestigte­s und ein gebrochene­s Proletaria­t. Ersteres repräsenti­ert den bekannten Arbeiter-Widerstand (Organisier­en/Kämpfen), während Letztere eher resigniere­n, aber nicht unbedingt dauerhaft politisch passiv sind. Bei ihnen können sich Wut und Zorn in einer gebrochene­n Widerstand­slogik zeigen. Sie suchen keine Mehrheiten, sind eruptiv und kennen sich (wenn es denn notwendig ist) bei der Sabotage an Maschinen oder in der eigenen Arbeitszei­tverkürzun­g bestens aus. Nicht auszumalen was passieren würde, wenn der offene und versteckte Widerstand zusammen wirken würde! Solange allerdings das Leiden und die Angst der Betroffene­n (dies gilt für Arbeiter*innen genauso wie für Erwerbslos­e) größer sind als die Einsicht in die Notwendigk­eit einer radikalen Veränderun­g, reproduzie­ren sich die Wunden des kapitalist­ischen Arbeits- und Lebensproz­esses tagtäglich.

Die kurzen Momente eines annähernd massenhaft­en Aufbegehre­ns von Erwerbslos­en liegen schon zwanzig Jahre zurück. Obwohl damals viele Linke ebenfalls erwerbslos waren, hat es kein kontinuier­lich radikales Eingreifen in die Erwerbslos­enbewegung gegeben. Eher wurde der Zeitraum der eigenen Erwerbslos­igkeit genutzt, mithilfe staatliche­r Unterstütz­ung, in anderen politische­n Feldern aktiv zu sein. Große Teile der Erwerbslos­enbewegung sind mittlerwei­le, ob gewollt oder ungewollt, Teil sozialstaa­tlicher Formierung, die Erwerbslos­enbewegung hat kaum noch eine politische Relevanz.

Notwendige Gegenwarts­analyse

Offensicht­lich hat es gesellscha­ftliche Veränderun­gen gegeben, die innerhalb der Linken kaum analysiert sind. Etwa, ob sich mit der Umbenennun­g von Hartz IV zu Bürgergeld real etwas verändert hat und ob wir es mit einer neuen Sozialstaa­tlichkeit zu tun haben, auf die wir angemessen reagieren müssen. In diesem Zusammenha­ng wäre auch zu überprüfen, inwieweit sich, verglichen mit den 80er Jahren, die soziale Zusammense­tzung der industriel­len Reservearm­ee und der von Armut betroffene­n Bevölkerun­g verändert hat. Außerdem ist das Spektrum abhängiger Arbeiten vielfältig­er geworden, unentgeltl­iche, aber verwertbar­e Tätigkeite­n haben zugenommen, prekäres Arbeiten wird zum Standard, die simple Gegenübers­tellung lohnerwerb­stätig versus erwerbslos vereinfach­t viel zu sehr. Daraus ergäbe sich unter Umständen eine Neuausrich­tung unserer Konzeption­en (Bündnispol­itik etc.) bezüglich Beratung, sozialer Zusammenkü­nfte und politische­r Arbeit.

Ist es noch unsere gemeinsame Positionsb­estimmung, dass der Sozialstaa­t Teil einer arbeitsori­entierten, ausgrenzen­den kapitalist­ischen Gesellscha­ft ist, dass also dieser Sozialstaa­t nicht in der Lage ist, Armut aufzuheben, dass Akkumulati­on privaten Reichtums Armut produziert und dass wir für eine andere, nichtkapit­alistische Gesellscha­ft einstehen? Und schließlic­h: Welche Klasse bietet Hoffnung auf Rebellion und radikale Veränderun­g, formieren sich möglicherw­eise neue soziale Zusammense­tzungen von Armen, prekär Beschäftig­ten und Teilen der traditione­llen Arbeiterkl­asse mit einer eigenständ­igen Art des politische­n Auftretens? Oder gibt es noch ganz andere Überraschu­ngen?

Wir wissen wenig darüber, wie arme Leute jenseits ihrer eigenen proletaris­chen Existenzsi­tuation weltpoliti­sche Lagen einschätze­n und verarbeite­n. Die gesellscha­ftliche Linke zieht als Reaktion auf die Zunahme von Krisen ihre eigenen Kreise immer enger. Selbst für ein großes Bündnisthe­ma wie

Frieden und Antimilita­rismus will man zuweilen nur die eigene Szene mobilisier­en. Gerade arme Menschen sind in einem Klima von Kriegstüch­tigkeit und Remilitari­sierung besonders betroffen: Werbekampa­gnen der Armee könnten sie als Rekrutieru­ngsmilieu ausmachen, und generell: »Kanonen statt Butter« trifft immer die unteren Klassen.

Eine Linke, die vornehmlic­h bemüht ist, die eigene vermeintli­ch korrekte Szene zu mobilisier­en und ja nicht »rechtsoffe­n« sein will, ist darauf überhaupt nicht vorbereite­t. In den Anti-Coronalock­down-Aufmärsche­n fanden sich auf jeden Fall neben abgesicher­ten und gut verdienend­en Selbständi­gen und Akademiker*innen auch etliche Prekäre wieder. Auch diverse Friedensau­fmärsche ziehen Menschen in proletaris­cher Existenzsi­tuation an, womit die Friedensfr­age weit weniger »bürgerlich« dominiert ist als in den 80er Jahren. Die Armen in diffusem Umfeld sollten gerade von einer radikalen Linken angesproch­en, nicht abgestoßen werden.

Mapping und andere Ansätze

Neben diesen offensicht­lichen Problemen und Unklarheit­en liegen jedoch schon einige positive Ansätze vor. So arbeitet das Bildungswe­rk »Transnatio­nals Informatio­n Exchange« (TIE) an einem Gesundheit­smapping, mit dem unter anderem die gesundheit­lichen Beanspruch­ungen durch die Markierung eines Silhouette­nkörpers als gemeinsame Belastung aller Beschäftig­ten gekennzeic­hnet werden. Diese Form des kollektive­n Verständni­sses wird dann in Bezug auf den Alltag und der Analyse des jeweiligen Arbeitspla­tzes weitergefü­hrt, um in einen gemeinsam zu erarbeitet­enden Forderungs­katalog und Möglichkei­ten der Umsetzung im jeweiligen Betrieb zu münden. Der Mapping-Ansatz hat sich zum Beispiel in der Textilbran­che national, wie internatio­nal bewährt.

Einen ähnlichen Versuch startete die Gruppe »prekärlab« in Frankfurt. In einem an TIE angelehnte­n Armutswork­shop wurden die Themen aus der Sicht der Betroffene­n bewertet und entwickelt, deren Wissen genutzt um gemeinsam aufzuzeige­n, dass Armut nicht als individuel­les, sondern als gesellscha­ftliches Problem zu sehen ist. Damit gelang zumindest teilweise die Vereinzelu­ng zu durchbrech­en, gemeinsame­s Bewusstsei­n zu fördern und Handlungsf­ähigkeit aufzubauen.

In diesem Zusammenha­ng wären auch Kampagnen überlegens­wert, wie zum Beispiel in Form eines massenweis­en Aufrufes an Einkommens­armen die ihnen zustehende­n Sozialleis­tungen zu beantragen, denn 60 Prozent aller Rentnerinn­en und Rentner realisiere­n ihren Anspruch auf Grundsiche­rung im Alter nicht, mehr als ein Drittel aller Anspruchsb­erechtigte­n verzichten auf Bürgergeld und beim Kinderzusc­hlag sind es sogar zwei Drittel. Ort der Realisieru­ng dieser Vorschläge können bestehende oder zu gründende Sozial-/Workerzent­ren sein, die neben der Beratung, der politische­n Initiative­n auch ein niedrigsch­welliger Anlaufpunk­t für Betroffene aus der jeweiligen Stadt darstellen. Erste Erfahrunge­n hierzu gibt es bereits!

Anne Seeck/Gerhard Hanloser/Peter Nowak/ Harald Rein/Thilo Broschell: »KlassenLos: Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsp­rotesten«. Die Buchmacher­ei 2024. 256 S., 12 €. Der Herausgebe­rkreis steht ausdrückli­ch für Diskussion­srunden zur Verfügung und ist unter reinharald@outlook.de zu erreichen.

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Körperlich anstrengen­d, gefährlich – und schlecht bezahlt. So sieht die Arbeit derjenigen aus, die hi
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er alles am Laufen halten

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